Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Chancen, die ungenutzten Begegnungen und die unerfüllten Träume. Erst wenn der Trauernde sich diese Gefühle von der Seele »gearbeitet« hat, findet er den Weg zur Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass er einen wichtigen Menschen verloren hat. Nach dieser ersten Phase kommt eine lange Zeit der Auseinandersetzung, die sich an der rein materiellen Körperlichkeit orientiert. Über die Annahme der Realität des Todes erkennt der Trauernde nun, dass das, was im Sarg liegt, vergänglich ist; das aber, was der Verstorbene für ihn bedeutete – seine Gedanken und Gefühle –, ist unsterblich. Dies vermitteln die Bilder von Michaela Frank auf eindrucksvolle Weise. In den letzten Skizzen wirkt der Gesichtsausdruck der Mutter wie verklärt, während sich die Konturen der Malerin auflösen, bis nur noch zwei, drei Striche übrig bleiben. Die Erkenntnis, dass das, was die Lebendigkeit ihrer Mutter ausmachte, unsterblich ist, hat sich durchgesetzt.
Wenn ein Mensch eine solche Erfahrung gemacht hat, dann ist er auch bereit, jemanden ins Grab zu geben. Er weiß, dass das, was er sieht, nicht der Verstorbene ist, sondern nur das Vergängliche, seine Hülle. So kann der Trauernde eine neue Beziehung aufbauen, die dann des materiellen Aspektes nicht mehr bedarf.
»Die Seele: Das ist der Mensch in seiner unvertretbaren Einmaligkeit. Seele: Das ist die geistige Vertrautheit mit sich selbst – welche freilich nicht anders als durch den Körper erworben wird. … Es gibt ›mich‹ nur mit Haut und Haaren. Aber ich bin nicht mit Haut und Haaren identisch. Während der Körper altert, wachse ich als Persönlichkeit über die Wechselfälle der Zeit hinaus. Und was den Tod überdauert, bin ich selbst im Spiegel meiner Lebensgeschichte. Von der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele zu sprechen heißt demnach zu bekennen, dass der wahre Charakter eines Menschen zu jeder Sekunde hier auf Erden geformt, im Tod aber offenbar wird.« So formuliert es der Theologe Bertram Stubenrauch in seinem Buch Was kommt danach? Himmel, Hölle, Nirwana oder gar nichts .
Aus dem Gefühl oder aus einer inneren Gewissheit heraus, dass der Mensch letzten Endes mehr sein muss als ein Zellhaufen und dass es nicht gleichgültig ist, wie gut oder wie schlecht er im Leben ist, beschließen Menschen an etwas zu glauben, das sie nicht »wissen« können. Doch bei der Frage, was von uns bleibt, was nach dem Lebensende kommt, geht es gar nicht um Beweise, Begriffsbestimmungen, Traditionen, Zweifel, Vermutungen oder darum, wer am Ende Recht behält. Die Unsterblichkeit der Seele ist unbeweisbar. Wir können nur an sie glauben: als Teilereignis der Auferstehung von den Toten am Ende aller Tage. Ein Mysterium, das sich verstehen lässt, ohne dass wir wirklich wüssten, was es ist. Wie sich ein Mensch angesichts dieses Mysteriums letzten Endes entscheidet, hängt auch davon ab, wer er ist: Welche Philosophie einer wähle, verrate, was für ein Mensch er sei, meinte schon Fichte.
Zeit für die großen Fragen
Man könne, schreibt der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal, »sehr wohl begreifen, dass es einen Gott gibt, ohne zu wissen, was er ist«. Als Beispiel für diese Paradoxie nennt er die unendliche Zahlenreihe: Wir wissen, dass »es ein Unendliches der Zahl gibt, aber wir wissen nicht, was dies ist« – die Zahl Unendlich ist weder gerade noch ungerade; dennoch ist sie eine Zahl, und als solche müsste sie entweder gerade oder ungerade sein. Eine respektable Autorität durch die Jahrhunderte bilden diejenigen Anhänger der Unsterblichkeit, die zugleich nüchtern argumentierende Mathematiker oder Naturwissenschaftler waren: Leibniz, Kant, Whitehead, Max Planck und andere. Wir sollten Fragen wie die nach der Unsterblichkeit niemals allein vom eindimensionalen, tendenziell kalten und verdinglichenden Denken des modernen Naturtechnikers beantworten lassen. Simple Sterblichkeit, das bloße Aufhören von allem mit dem Herzstillstand, wäre zu wenig angesichts dessen, was Menschen erfahren, fühlen und erleben können.
Im Trauern liegt eine kreative, schöpferische Kraft, weil es uns innerlich so stark bewegt, dass wir uns die großen Fragen stellen. Der Tod ist ein Ort der Frage, nicht der Antworten. Es gilt auch, diese Fragen aus dem Abseits zu holen. Die Begegnung mit Sterben, Tod und Trauer macht empfänglich für den gegenwärtigen Augenblick und hilft den Menschen, sich zu erinnern, wer sie sind und woher sie kommen, wohin sie gehen und
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