Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
zu geben. Es ist der individuelle Mensch, der nach seinem Weg im Leben sucht. Wäre es anders, müsste von »Selbst« und von »Individualität« gar keine Rede sein. Es ist keine Selbstverständlichkeit, den eigenen Werten zu folgen. Akteure in einer Gesellschaft, so die Theorie, sind immer bestrebt, ihr Verhalten den Normen und Erwartungen ihres sozialen und kulturellen Umfeldes anzupassen. Wir folgen deshalb selten unseren eigenen Wegen, sondern stattdessen den Mustern, denen eben alle anderen auch folgen. Das spart Zeit, Nerven und die Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen. Es ist aber nicht immer von Vorteil
Die Vervielfachung von Angeboten, die Pluralisierung von Werten vergrößern die Wahlfreiheit und damit die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, der Individualität. Im Gegenzug erhöhen sie die Anforderungen an die Fähigkeit des Einzelnen, Werte zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln. Der britische Philosoph Isaiah Berlin hielt vor mehr als einem halben Jahrhundert seine bahnbrechende Antrittsvorlesung in Oxford über die wichtige Unterscheidung zwischen »negativer Freiheit« und »positiver Freiheit«. Negative Freiheit ist für ihn »Freiheit von« Zwang, Freiheit von den Vorschriften anderer. Positive Freiheit ist »Freiheit zu« der Nutzung von Möglichkeiten und Chancen, die Freiheit, unser Leben zu gestalten, ihm Bedeutung und Sinn zu geben. Wenn die Zwänge, die in uns den Wunsch nach der »Freiheit von« wecken, sehr groß sind, lässt sich die »Freiheit zu« nicht verwirklichen. Jede Wahl, die wir treffen, ist ein Zeugnis für unsere Autonomie, für unser Gefühl der Selbstbestimmung. Fast jeder Politik-, Sozial- oder Moralphilosoph in der abendländischen Tradition seit Platon hat solcher Autonomie eine besondere Bedeutung eingeräumt. Und mit jeder neuen Ausweitung der Wahlmöglichkeiten erhalten wir noch mehr Gelegenheit, unsere Autonomie auszuüben und damit unseren Charakter unter Beweis zu stellen. Wir können heute im Vergleich zu früheren Generationen weitaus freier über unser Leben bestimmen, wissen aber oft nicht mehr genau, was für eine Art Leben wir führen wollen.
Vom Wert der Bindung
Die individuelle Wahlfreiheit erstreckt sich auch auf Bindungen: Was sich einst im Rahmen von Nachbarschaft und Arbeitsplatz mehr oder weniger von selbst ergab, muss heute jeder für sich selbst entwickeln. Die Menschen sind gezwungen, sich ihren Freundeskreis zu schaffen und ihre Verwandtschaftsbeziehungen aktiv zu pflegen. Kurz: Unser soziales Netz ist kein Geburtsrecht mehr, sondern wird von uns aktiv gestaltet. Damit wird es zu einer Aufgabe, die wiederum Entscheidungen, Zeit und Energie erfordert. Doch soziale Bindungen sind zeitaufwändig. Es kostet Zeit, sie zu knüpfen, und Zeit, sie aufrechtzuerhalten. Die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen setzt die Bereitschaft voraus, sich von ihnen in Anspruch nehmen und einschränken zu lassen. Jede Verpflichtung anderen gegenüber bedeutet einen Verzicht auf Optionen.
Man selbst zu sein und über das eigene »Selbst« zu bestimmen, steht daher in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu starken Bindungen an andere oder an eine soziale Gruppe. Doch ist längst durch zahlreiche Untersuchungen belegt, dass die Verbundenheit mit anderen eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Zufriedenheit eines Menschen ist. Menschen, die in einer Partnerschaft leben, die Freunde und ein gutes Verhältnis zu ihren Angehörigen haben, sind zufriedener als Menschen, bei denen das nicht der Fall ist.
Allerdings bedeuten soziale Bindungen in vielerlei Hinsicht eine Einschränkung von Freiheit und Autonomie. Die Ehe als dauerhafte Bindung an einen bestimmten Menschen begrenzt die Wahlfreiheit in Bezug auf Partner. Jede ernsthafte Freundschaft nimmt uns dauerhaft in die Pflicht. In einer Freundschaft übernehmen wir Verantwortungen, die unsere Freiheit zuweilen einschränken. Natürlich gilt das Gleiche auch für die Familie, für das Ehrenamt und für die Mitarbeit in Vereinen und Gruppen aller Art.
Die Kehrseite aber, und sie erleben in unserer anonym gewordenen Welt viele Menschen, ist die: Wir verdienen mehr und geben mehr aus, aber wir verbringen weniger Zeit mit anderen Menschen. Wir verbringen weniger Zeit mit Besuchen bei unseren Nachbarn, weniger Zeit mit Besuchen bei unseren Eltern und noch weniger Zeit mit Besuchen bei anderen Angehörigen. Und im Alter stellen wir dann fest, dass unser Leben sehr einsam geworden
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