Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
sich in Internetforen, um ihre Erfahrungen miteinander zu teilen und gemeinsam zu trauern. Das Wichtigste ist, dass Trauernde ihre Gefühle ausdrücken. Ob sie darüber reden oder schreiben, ob sie sich durch Singen, Malen oder Tanzen ausdrücken – entscheidend ist nur, dass sie nicht stumm bleiben.
Dazu beitragen, dass Trauernde ihre Sprache wiederfinden, kann eine angemessene Trauerbegleitung, der allerdings in Deutschland immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Solange der Verstorbene noch am Leben war, stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit seinem Tod sollte diese Zuwendung jedoch dem Hinterbliebenen gelten. In diesem Moment ist der Arzt nicht mehr der Behandelnde eines Patienten, sondern der Begleiter eines Angehörigen. Er muss den entscheidenden Satz sagen: »Ihr Mann ist tot.« Wo lernen Ärzte, was in dieser Situation Begleitung heißt? Wo lernen Medizinstudenten den Umgang mit dem Tod und den Hinterbliebenen? Sicher nicht in der Anatomie. Hier ist noch viel gesellschaftliche Bewusstseinsarbeit zu leisten, um diejenigen, die beruflich mit Tod und Trauer zu tun haben, zusammenzubringen und auf diese Aufgabe angemessen vorzubereiten.
Was mir vorschwebt, ist eine neue Institution, die alle Spezialisten unter einem Dach vereinigt: Ärzte, Seelsorger, Psychologen, Bestatter und viele andere mehr, an die wir heute vielleicht nicht einmal mehr denken – eine Art »Trauerhospiz«. So, wie in einem Hospiz für Sterbende anders gearbeitet wird als in einer Klinik, stelle ich mir vor, dass in einem Trauerhospiz alle Helfer zusammenarbeiten, um Trauernden mit Beratung und Begleitung beizustehen. Neben einem solchen Trauerhospiz wünsche ich mir eine Friedhofsberatung, die sich um Veränderungen in der Friedhofskultur bemüht. Andere europäische Länder sind uns, was die Freiheit der Gestaltung bei der Bestattung der Toten betrifft, weit voraus. Tote und Trauernde stehen bei uns weit hinten auf der politischen Prioritätenliste.
Eine solche institutionelle Unterstützung kann Wege öffnen hin zu einem kreativen Umgang mit Trauer, indem sie Angehörige ermutigt, neue Formen der Trauer zu leben. Es gehört Mut dazu, Vertrauen in das eigene Handeln zu setzen und sich damit auch in den modernen Sterbewelten der Krankenhäuser durchzusetzen, die solche Spielräume häufig nicht zugestehen.
Wenn wir Tod und Trauer wieder einen Platz im Leben geben, löst sich für Trauernde der Widerspruch auf zwischen unveränderter Außen- und veränderter Innenwelt, und sie sind nicht mehr allein in ihrem Bemühen, sich in dieser veränderten Welt neu einzurichten.
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Verwandlungen
Lebendigkeit ist unsterblich
Auf alten europäischen Karten waren die Grenzen erforschter Gebiete markiert und die unerforschten Regionen mit dem Vermerk »Hier gibt es Drachen« gekennzeichnet. Ähnlich dürfte es sich anfühlen, wenn Sie beginnen, über Ihre eigene Sterblichkeit nachzudenken. Sie reisen an Orte, die Sie lieber meiden möchten, und das erfordert Mut. Sie werden dabei auch feststellen, dass diese Erfahrung Sie verändert.
Ich erinnere mich an eine Schülergruppe, die unser Haus in Bergisch Gladbach besuchte, nachdem sich die Jugendlichen im Unterricht mit Sterben und Tod beschäftigt hatten. Keiner von ihnen hatte zuvor je einen »echten« Toten gesehen. Ich war froh, ihnen dieses Erlebnis vermitteln zu können, natürlich mit Erlaubnis der Eltern. Sie kamen also nach vorbereitenden Gesprächen in den Raum, in dem ein älterer Mann aufgebahrt lag. Jeder der jungen Besucher hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Ein oder zwei Minuten starrten sie stumm in den Sarg. Dann platzte ein Mädchen heraus: »Aber das ist ja überhaupt nichts Schlimmes!« Später hörte ich sie eine Freundin fragen, wo denn wohl das »Lebendige« hingegangen sei, schließlich hätten sie ja im Physikunterricht gelernt, dass nie etwas verloren gehe.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist für viele Menschen gleichzeitig eine Beschäftigung mit dem Unvergänglichen. Das zeigen auch die Erfahrungen der Malerin Michaela Frank. Auf Skizzen, die am Sarg ihrer Mutter entstanden sind, ist die innere Verwandlung zu erkennen: Am Anfang rebelliert sie merklich gegen den Tod der Mutter. In den ersten Bildern kommen Gefühle der Ohnmacht, des Zorns und der Wut zum Ausdruck. Das Gesicht der Mutter, die zu betrauernde Person, ist nicht zu erkennen. In dieser ersten Phase wird die Trauer über das »ungelebte Leben« erfahrbar, über die verpassten
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