Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
ist.
Leben in der Gegenwart
Der Tod und das Bewusstsein von Vergänglichkeit lehren uns nicht nur etwas über Werte und Bindungen, sondern vor allem über das Verhältnis zur Zeit . Genauer über das Verhältnis, in dem wir Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit erleben. Der Tod lehrt, wie kostbar der Augenblick ist. Das ist das, was Menschen, die mit einer begrenzten Lebenserwartung konfrontiert werden, berichten: Sie nehmen das, was ist, anders wahr. Sie fangen an, eigene Entscheidungen zu treffen und sich über die Erwartungen anderer hinwegzusetzen.
Die Zeit ist unsere knappste Ressource, und daran ändert auch der Umstand nichts, dass uns der technische Fortschritt eine »Zeit sparende« Errungenschaft nach der anderen beschert: Im Gegenteil: Die Belastungen unseres Zeitbudgets scheinen immer größer zu werden. Wer kann wirklich frei über seine Zeit verfügen? Wer kann mit seinen regelmäßigen Pflichten so frei umgehen, dass er für andere da sein kann, wenn sie ihn brauchen? Die Mitte des Lebens ist oft der Moment, in dem deutlich wird, dass Endlichkeit auch das eigene Dasein betrifft: Die Eltern werden älter, Erfahrungen mit Tod und Sterben rücken näher. Bis dahin haben viele vor allem gelebt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.
Unendliche Erwartungen
Der Zugewinn an Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheit bringt mit sich, dass auch die Erwartungen steigen. Wird ein Hindernis nach dem anderen, das unseren Wünschen entgegensteht, eingerissen, stören diejenigen, die bleiben, umso mehr. Der Tod ist so ein Hindernis. In der bewussten Hinwendung zu Themen wie Tod und Trauer fangen wir an, uns mit unkontrollierbaren Situationen auseinanderzusetzen. Wir erwarten heute nicht nur Berechenbarkeit, Perfektion und Vollkommenheit von Dingen, sondern auch von uns selbst. Ein Anspruch, mit dem wir unweigerlich scheitern müssen.
In dem Maße, in dem sich unsere materiellen und sozialen Verhältnisse verbessern, steigen unsere Vergleichsmaßstäbe. Ein Lebensbereich, in dem sich der Fluch immer höherer Erwartungen besonders deutlich zeigt, sind Gesundheit und medizinische Versorgung. Ohne Zweifel ist der Gesundheitszustand der Menschen in den reichen Industrieländern so gut wie noch nie. Die Menschen leben nicht nur länger, sondern erfreuen sich auch einer besseren Lebensqualität. Dass moderne Medizin und Gesundheitspflege dazu beitragen, unsere Lebenserwartung zu erhöhen, scheint allerdings kein entsprechendes Maß an Zufriedenheit zu erzeugen. Wir sind vielmehr unentwegt um unsere Gesundheit besorgt und angesichts immer weiter verschobener Grenzen des Machbaren in der Medizin kaum noch imstande zu akzeptieren, was wir (an uns selbst) vorfinden.
Der Theologe Manfred Lütz hat dies in seinem Buch Lebenslust sehr zugespitzt formuliert: »Unsere Vorfahren bauten Kathedralen, wir bauen Kliniken. Unsere Vorfahren retteten ihre Seele, wir unsere Figur.« Die Widersprüche, die mit dem Wunsch nach Kontrolle und Perfektion verknüpft sind, treten nirgends deutlicher zutage als in der obsessiven Beschäftigung mit Gesundheit und Aussehen. Alle Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, dass die meisten von uns auf lange Sicht kaum etwas in Hinblick auf Figur und Gewicht unternehmen können. Das Zusammenwirken von Genen und frühkindlichen Erfahrungen legt weitgehend fest, wie wir als Erwachsene aussehen, die allermeisten Diäten bringen nur kurzfristige Veränderungen. Doch alles, was man uns täglich darüber erzählt, steht in direktem Gegensatz zu diesen Fakten. Mit den Zeichen des Alterns verhält es sich genauso, auch wenn lange Regalreihen voller Anti-Aging-Produkte anderes versprechen. Damit richten sich aber auf die Medizin viele Hoffnungen und Sehnsüchte, die dort nichts zu suchen haben. Nicht bloß Heilung von irgendwelchen Beschwerden, sondern das Heil schlechthin suchen die Menschen im Gesundheitswesen, das Heil hier und jetzt auf ewig. Der moderne Gesundheitsgläubige widmet seiner Religion mehr Zeit, Kraft und finanziellen Aufwand als der mittelalterliche Mensch seinem Glauben.
Verluste akzeptieren
Lebenszufriedenheit kann sich nicht einstellen, solange Verluste verdrängt werden. »Wir sind vermutlich die ersten Gesellschaften in der Geschichte, in denen Menschen dazu gebracht werden, unglücklich darüber zu sein, dass sie nicht glücklich sind.« Auf diese Weise aber »wächst und vervielfältigt es (das Leiden) sich um so mehr, je mehr wir es auszurotten versuchen.
Alles, was sich der Kraft
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