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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
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wohin sie gehen wollen, an ihre Werte, Ideale und Träume. Sie erinnert sie daran, warum sie das, was sie gerade tun, begonnen haben, und zu erkennen, ob es noch immer das ist, was sie tun wollen. Sicher, Trauerphasen schwächen die Lebensmotivation für den Augenblick, aber sie führen auch zu neuen Sichtweisen und Einsichten und tragen zur Wandlungsfähigkeit bei. In seinem bewegenden Buch Das Ende ist mein Anfang schreibt der italienische Journalist Tiziano Terzani: »Der Tod nimmt uns alles. Gelänge es uns, vorher schon etwas Ballast abzuwerfen, würden wir uns freier fühlen. …Warum bis zum letzten Moment warten, um reinen Tisch zu machen, den Ballast an Dingen und Emotionen ins Meer zu werfen, den wir mit uns herumschleppen?« Sich mit dem Tod zu befassen heißt, sich mit dem Leben zu befassen. Der Tod ist ein großer Lehrmeister.

Teil III

10
    Der Tod als Lehrmeister

Die a-mortale Gesellschaft
    Wir haben die Möglichkeit, das Lebensende, die reale Begegnung mit Tod und Trauer, aus dem Alltag auszublenden und auf Distanz zu halten. Aber wenn wir uns entscheiden, uns mit Tod und Trauer befassen, gewinnen wir für das Leben: einen Rahmen, der im individuellen wie gesellschaftlichen Leben Auskunft gibt über die Werte, denen wir folgen wollen. Ein solcher Umgang mit Sterben, Tod und Trauer schärft unser Bewusstsein für die Endlichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens – und stärkt so die Fähigkeit, Veränderungen – die immer auch Verlusterfahrungen sind – zu bewältigen. Lebenskrisen wie Trennung oder Arbeitsplatzverlust haben viele Gemeinsamkeiten mit dem, was Trauernde erleben und bewältigen müssen. Sie erfordern den Abschied von einem Leben, wie es war, die Verarbeitung einer Verlusterfahrung und ihre Integration in ein »Leben danach«.
    Wenn die eigene Endlichkeit aus dem Alltagsleben ausgeblendet wird, fehlt die Erfahrung der Grenzen, die der Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Planbarkeit des Lebens gesetzt sind. Wenn heute von Grenzen die Rede ist, geht es fast immer darum, sie zu überschreiten, niederzureißen und zu überwinden. Grenzenloses Wachstum in einer grenzenlosen Wirtschaft, grenzenlose Informationen, grenzenloser medizinischer Fortschritt vermitteln den Eindruck einer Welt unendlicher Möglichkeiten. Dazu passt der Tod nicht.
    Es sagt sich so leicht: Der Tod gehört zum Leben. Aber inmitten der täglichen Geschäftigkeit mit ihren Terminen und To-do-Listen, Freizeitvergnügen und Ärgerlichkeiten hat dieser Gedanke selten die Chance, ins Bewusstsein vorzudringen. »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen«, heißt es in einem Kirchenlied. Darunter können wir uns noch vorstellen, dass wir morgens von der Straßenbahn überfahren werden könnten oder die Diagnose einer unheilbaren Krankheit von einem Tag auf den anderen alle Lebenspläne über den Haufen wirft. Der Tod gehört, für die meisten, eben nicht zum Leben. Er ist ein dunkler Schatten, dem wir ausweichen, so lange und so gut wir können.
    Was wäre, wenn wir ewig leben würden und es die Grenze, die der Tod setzt, nicht (mehr) gäbe? Wir müssten uns nicht entscheiden. Wir könnten jede Entscheidung revidieren.
    Anders gesagt: Es ist die Endlichkeit des Lebens, die uns zwingt abzuwägen. Der Tod schafft die Werte, nach denen Menschen ihr Leben führen und ihre Erfahrungen bewerten. Was ist wichtig, was ist weniger wichtig? Was passiert, wenn wir darüber nachdenken, dass wir irgendwann sterben werden? Oder noch schärfer formuliert: Wenn wir wüssten, dass wir nur noch zwei Monate oder fünf Jahre zu leben hätten? Wir würden sehr wahrscheinlich anfangen, das zu tun, was uns wichtig ist, und die Dinge zu ignorieren, von denen uns andere gesagt haben, dass wir sie tun sollen. Die Begegnung mit dem Tod setzt andere Prioritäten, weil sie an die begrenzte Zeit erinnert, in der Handeln möglich ist.
    Wer seine Grenzen wahrnimmt, kann sie als Orientierung nutzen. Aus den Antworten auf die Endlichkeit des Lebens ergeben sich daher die Maßstäbe des individuellen Handelns. Diese wiederum prägen die unzähligen Entscheidungen, die wir täglich zu treffen haben und die bestimmen, wie wir unser Leben führen und womit wir es füllen.
    Wir definieren uns über das, was wir wählen. Bekanntlich ist es der Platonische Sokrates, der die Frage, »wie man leben soll«, erstmals ausdrücklich für sich selber gestellt und es abgelehnt hat, darauf eine generelle, unterschiedslos auf alle Menschen zutreffende Antwort

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