Das letzte Hemd
wie weit unten in der Tabelle
die Mannschaft stand. Er mochte die immer wiederkehrende Mischung aus Spannung,
Hektik und Banalität, die eine Radioübertragung kennzeichnete. Seiner Ansicht
nach funktionierte Fußball als Gemeinschaftserlebnis auch im Radio. Früher
hatte er oft zusammen mit den Nachbarn im Garten herumgepusselt und dabei
Bundesliga gehört, in jedem Garten lief damals das Radio. Legendär war ein
Samstag Ende April 1978: Die Borussia aus Mönchengladbach spielte gegen die aus
Dortmund. Es war der letzte Spieltag, und es ging um die Meisterschaft. Er war
damals noch ein junger Polizist in Mönchengladbach gewesen. Gladbach hatte
zwölf zu null gewonnen und war doch nicht Meister geworden, weil der 1. FC Köln gleichzeitig fünf zu null gegen St. Pauli
gesiegt hatte. Das war Spannung pur. Am Abend hatten alle Nachbarn die Tore in
der Sportschau angesehen, sich danach beim spontanen Altbier am Gartenzaun
getroffen und bis in die Nacht diskutiert.
Heute guckten die Leute sich die Spiele meist in Kneipen an, die
sich »Sports-Bar« nannten und über die entsprechenden Empfangsgeräte für die
Bundesligaübertragung verfügten. Das war schön und gut, nur gehörten diese
Gaststätten oft nicht zu denen, in denen Becker gern verkehrte. Ab und zu sah
er sich die Spiele im neuen, ufo-ähnlichen Stadion der Borussia an. Die
Atmosphäre dort war schon etwas ganz Besonderes, wenn auch nicht so grandios
wie im alten Stadion am Bökelberg. Ansonsten reichte ihm sein altes Telefunken-Röhrenradio,
das sich nahezu nahtlos in die Regalkonstruktion seines Hobbykellers einfügte
und die Spiele tadellos übertrug. Besonders gefiel ihm, dass das Gerät nach dem
Einschalten ein paar Sekunden brauchte, ehe der Ton aus dem Lautsprecher kam.
Das war für Becker immer ein kleiner Moment des Innehaltens. Auch als seine
Frau noch gelebt hatte, war er gern hier unten gewesen, hatte an irgendwas
rumgebastelt und war irgendwann wieder nach oben gegangen, wo das Abendbrot
bereits auf ihn wartete. Jetzt wartete da nichts mehr. Außer dem Abwasch.
Hans-Harald Becker fühlte sich müde und urlaubsreif. Eine zehntägige
Skireise zu Anfang des Jahres hatte er absagen müssen, da viele seiner Kollegen
krank gewesen waren und die ganze Arbeit an ihm hängen geblieben war. Die bunt
zusammengewürfelte Truppe aus Schleswig-Holstein, mit der er seit vielen Jahren
einmal im Jahr zum Skifahren nach Südtirol fuhr, war diesmal ohne ihn gefahren.
Er hatte die Reise auch nicht nachgeholt, denn allein machte Skifahren keinen
Spaß, und Beckers hiesige Freunde hatten mit Wintersport nichts am Hut. Nicht,
dass er so wahnsinnig viele Freunde hatte. Das wurde ihm heute, zehn Jahre nach
dem Tod seiner Frau, deutlicher bewusst als früher. Vielleicht suchte er auch
deshalb immer wieder den Kontakt zu seinem Nachbarn Rosenmair, obwohl ihm
durchaus klar war, dass der von mindestens achtzig Prozent dieser
Kontaktaufnahmen nicht allzu begeistert war. Er war eben durch und durch ein
Eigenbrötler. Aber Becker mochte solche Charaktere. Er hatte selbst zwanzig
Jahre lang einen Vorgesetzten gehabt, der ähnlich schwierig im sozialen Umgang
gewesen war. Und dennoch ein großartiger Chef, wie er rückblickend erkannt
hatte. Erst nach seiner Pensionierung war »der Alte«, wie ihn sämtliche
Polizisten wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Siegfried Lowitz
hinter seinem Rücken nannten, etwas aufgetaut. Seitdem trafen Becker und er
sich in unregelmäßigen Abständen zum Klönen über alte Zeiten, auch mal zum
Grillen. Becker dachte kurz an seine eigene Pensionierung, die auch nicht mehr
lang hin war, Ende des Jahres wurde er sechzig. Er schüttelte sich kurz und
lenkte seine Gedanken lieber auf Erfreulicheres, seinen Urlaub zum Beispiel.
Nach der ausgefallenen Skireise und dem aus dem Vorjahr aufgesparten
Resturlaub, der eigentlich schon verfallen wäre, konnte Becker sich auf vier
Wochen Urlaub am Stück freuen, etwas, was ihm schon seit Jahren nicht mehr
gelungen war. Und da er mit seiner Frau immer über eine Ost-West-Durchquerung
des amerikanischen Kontinents gesprochen hatte – gereicht hatte es jedoch nur
für vierzehn Tage Florida, die keiner Wiederholung bedurften –, wollte er sich
diesen Traum nun erfüllen. Eine gewisse Strecke wollte er mit dem Auto, später
dann ein paar Etappen per Flugzeug zurücklegen, damit ihm dort, wo es ihm gut
gefiel, ein bisschen Zeit blieb. Dass es Orte geben
würde, an denen es ihm gut gefiel, daran
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