Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Recht, wenn du verhaftet wirst, deine Angehörigen zu informieren. Hat dir das niemand gesagt?«
»Nein.«
Schniefend und mit steifen Bewegungen erhob er sich von der Betonpritsche. Er schien nicht so recht zu wissen, ob er an die Zellentür treten durfte.
»Ich rufe deine Eltern an«, sagte Hanne kurz. »Wie heißen die? Und kannst du mir die Nummer sagen?«
»Nein!«
Jetzt stand der Junge an der Tür. Hanne sah, daß sie sich im Alter verschätzt hatte, er konnte durchaus schon auf die Fünfundzwanzig zugehen. Er hatte große blaue Augen in einem runden Gesicht, aber an seinen Wangen wurden schon die abendlichen Schatten deutlich.
»Rufen Sie nicht meine Mutter an. Rufen Sie … wenn Sie meine Tante anrufen könnten, Idun Franck. Ihre Nummer ist 22 …«
»Idun Franck? Du kennst … Idun Franck ist deine Tante?«
»Ja. Kennen Sie sie?«
Der Junge versuchte ein kleines Lächeln. Hanne schloß die Zellentür auf und zog Daniel Åsmundsen unter dem Gejohle und Geschrei der übrigen Festgenommenen mit sich. Plötzlich hatten alle eine Tante, die unbedingt angerufen werden mußte.
»Ich nehme Nummer acht mit zum Verhör«, teilte sie dem Arrestleiter kurz mit.
»Von mir aus kannst du zehn mitnehmen«, sagte der und wandte sich einem Polizeianwärter zu. »Wo zum Teufel bleibt der psychiatrische Notdienst?«
Die schuhlose Nutte stand noch immer mitten im Raum und schrie nach Fußbekleidung. Sie hatte sich die Zehen am Boden blutig gescheuert. Jeder von den Beamten machte einen großen Bogen um sie. Sie war zu einem Teil des Inventars geworden, zu einer lästigen Säule mitten im Raum, die alle störte, die zu entfernen aber niemand sich berufen fühlte.
»Hier«, sagte Hanne. »Nimm meine.« Sie streifte ihre Stiefel ab, die texanischen mit Silbersporen und beschlagenen Absätzen.
»Danke«, murmelte die Pelzbekleidete überrascht. »Die sind ja toll, Mensch.«
Sie zog die Stiefel mit großer Mühe an und lächelte dem Arrestleiter hinter seinem Schreibtisch triumphierend zu. Er schaute nicht einmal in ihre Richtung. Dann seufzte sie zufrieden und trampelte mit ihrer braunen Papiertüte unter dem Arm und stolz erhobenem Haupt in den Adventsabend hinaus. Kaum jemand registrierte ihr Verschwinden.
55
Hanne Wilhelmsen hatte sich Idun Francks Wohnung nicht so vorgestellt, wie sie am späten Abend des 22. Dezember aussah. Bei ihrer Vernehmung fünf Tage vor diesem Montag hatten die Kleider der Lektorin farblich zueinander gepaßt, waren ihre Haare sauber und glänzend gewesen; überhaupt hatte die Frau in mittleren Jahren elegant und anziehend gewirkt. Außerdem hatte sie, trotz der unangenehmen Fragen, eine seelische Stärke ausgestrahlt, die sie noch attraktiver gemacht hatte.
Der Weihnachtskaktus auf der Fensterbank hätte in der Wüste ein schöneres Leben gehabt. Er ließ mißmutig seinen großen Kopf hängen und war umgeben von heruntergefallenen trockenen Blüten. Die Luft in der Wohnung war stickig, und überall lagen schmutzige Kleidungsstücke herum. Idun Franck hatte hektische rote Wangen, als Hanne und Silje Sørensen die Treppe zum zweiten Stock heraufkamen. Offenbar hatte sie die Sekunden seit dem Klingeln genutzt, um die allerärgste Unordnung zu beseitigen. Aber noch immer stand auf dem Couchtisch eine schmutzige Kaffeetasse. Der Aschenbecher stank und hätte schon zwei Tage zuvor geleert werden müssen.
»Setzen Sie sich«, sagte Idun Franck und schaute traurig ihre Sitzgruppe an, ohne jedoch die große Handtasche von dem einen und den Zeitungsstapel von dem anderen Sessel zu entfernen.
Hanne und Silje nahmen auf dem Sofa Platz.
»Kaffee«, sagte Idun Franck unvermittelt und verschwand in der Küche.
»Dauert das nicht viel zu lange?« flüsterte Silje. »Kaffee, meine ich.« Sie kratzte sich am Bauch.
»Milch habe ich leider nicht«, sagte Idun Franck und stellte drei Tassen auf den Tisch. »Ich habe es nach der Arbeit nicht mehr geschafft einzukaufen. Jetzt sind es nur noch elf Tage.«
»Elf Tage?«
Hanne Wilhelmsen nahm Unni Lindells »Paß auf, was du träumst« von einem Beistelltischchen und blätterte ziellos darin herum.
»Bis zum Weltuntergang«, sagte Idun Franck mit kurzem Lachen. »Wenn wir diesen Weltuntergangspropheten glauben dürfen. Aber das dürfen wir vielleicht nicht. Haben Sie das gelesen?«
Hanne schüttelte den Kopf. »Nein. Ich komme kaum zu so was.«
»Ich habe mich oft gefragt, ob Polizisten wohl Kriminalromane lesen«, sagte Idun Franck; ihre Stimme
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