Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
hatte sie am Freitag abend mit einem Schulterzucken gesagt. »Aber ich habe das Protokoll seiner Vernehmung mehrere Male gelesen. Und das stinkt. Viel zu keß.Viel zu selbstsicher. Wenn du am Wochenende Zeit und nichts gegen Gratisarbeit hast, dann nimm dir den Typen mal vor. Während wir auf Tussi warten, gewissermaßen. Es ist gute Polizeiarbeit, alle Möglichkeiten offenzulassen. Vergiß das nicht, Silje.«
Silje hatte nichts gegen unbezahlte Arbeit. Nach einem halbherzigen Versuch am Samstag vormittag, Billy T. zu erwischen, hatte sie sich auch ohne dessen Erlaubnis ans Werk gemacht. Nach zwei Tagen einsamer Ermittlungen, die vor allem darin bestanden, Leute anzurufen, mit denen sie bereits gesprochen hatten, machte ihr Gewissen ihr schon um einiges weniger zu schaffen. Billy T. aber hätte sie auf jeden Fall gestoppt. Wenn aus keinem anderen Grund, dann allein schon aus Rücksicht auf das Überstundenbudget. Silje pfiff auf alle Budgets. Die Übelkeit war kein Problem mehr. Im Gegenteil, sie hatte sich ungeheuer wohl gefühlt, als sie am Sonntag abend einen fünfseitigen Bericht mit neun Anlagen verfaßt, ordentlich ausgedruckt und zusammen mit einer übersichtlichen Inhaltsliste in einem grünen Umschlag verstaut hatte. Sie war behutsam mit der Hand über das grüne Papier gefahren und hatte laut gelacht. Silje Sørensen war gern bei der Polizei. Bester Laune war sie zu Hause neben einem zusehends besorgen Ehemann ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Zum Glück hatte er nicht gemerkt, daß sie sich den Wecker auf vier stellte.
Sindre Sand hatte nicht nur in bezug auf seinen Aufenthaltsort am Abend des fünften Dezember gelogen. Der Mann von der Tankstelle konnte durchaus existieren. Gerade solche Dinge vergaßen Zeugen ja leider leicht. Egal. An sich.
Schlimmer für den jungen Mann war, daß er am Samstag abend in Gesellschaft von Brede Ziegler gesehen worden war.
»In mehreren Lokalen!« Annmari Skar schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wieso erfahren wir das erst jetzt? Wie zum Teufel haben wir das übersehen können?«
»Weißt du nicht mehr, was Hanne Wilhelmsen gesagt hat, als wir …«
Annmari starrte Silje übellaunig an.
»Hanne sagt sehr viel«, sagte sie mürrisch. »Du solltest vorsichtig sein, was diese Frau betrifft, Silje. Die ist nicht unbedingt eine gute Karte.«
»Aber sie ist gut.«
Annmari gab keine Antwort.
»Sei doch mal ehrlich«, sagte Silje ungewöhnlich laut. »Siehst du nicht, daß Billy T. dich manipuliert? Was hat Hanne Wilhelmsen dir eigentlich getan?«
»Vergiß es.«
»Nein. Ich hab es zum Kotzen satt , daß alle Hanne behandeln, als ob sie … Aids hätte oder so. Ich hab ja inzwischen kapiert, daß sie und Billy T. irgendwelche ungeklärten Dinge mit sich herumschleppen, aber das geht uns doch nichts an.«
»Alle fallen auf Hanne Wilhelmsen herein«, sagte Annmari Skar. »Alle sind ein wenig …« Sie zögerte. Plötzlich öffnete ihr Gesicht sich zu einem fremden Lächeln. »Alle verlieben sich ein wenig in sie.«
»Verlieben!«
Silje wurde es abwechselnd heiß und kalt, und sie erhob sich halbwegs.
»Ja, verlieben«, sagte Annmari halsstarrig. »Hanne Wilhelmsen ist ungeheuer tüchtig. Rein polizeilich, meine ich. Vielleicht die Beste. Außerdem hat sie eine ganz eigene Fähigkeit, die Jüngeren hier im Haus zu beeindrucken. Die fühlen sich privilegiert, umworben. So, als hätte die Königin selbst …«
»Ich will dir mal eins sagen, Polizeijuristin Skar!« Silje war jetzt ganz aufgestanden. Sie beugte sich über den Tisch und stützte sich auf ihre Handflächen. »Ich bin glücklich verheiratet und außerdem schwanger! Ich liebe meinen Mann, und ich empfinde nichts, und ich betone, nichts …«
Sie schlug schallend auf den Tisch. Die Christbaumkugel mit dem Gesicht des Polizeipräsidenten zitterte erschrocken, und ein Kantinenangestellter, der gerade ein Tablett mit benutzten Kaffeetassen wegbringen wollte, zuckte zurück.
»Du bist ganz einfach … du bist …« Sie richtete sich auf. Plötzlich war sie müde. Wellen der Übelkeit jagten durch ihren Leib, und sie schluckte schwer. »… alt«, fügte sie hinzu. »Du bist ganz einfach zu alt, Annmari.«
»Ich bin noch keine vierzig.«
Beide drehten sich, wie auf ein geheimes Signal hin, zu dem Angestellten um. Der stand da, das Tablett in den Händen, und glotzte. Annmari mußte lachen. Sie lachte laut und lauter und lange. Silje starrte sie verwirrt an und schien sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher