Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Wache lagen. Die konnte er am nächsten Tag abholen. Er würde sie ja doch nicht verkaufen.
Um fünf Uhr morgens wurde er von seinem eigenen Weinen geweckt.
56
Harrymarry kam nicht zurückgekrochen, sie kam gehumpelt. Daß Hanne sich wegen einer blöden Spritze dermaßen anstellen konnte, begriff sie nicht.
»Ich laß mir kein Scheiß bieten«, murmelte sie und wackelte weiter in Richtung Lille Tøyen.
Vom Bankplass war es ein weiter Weg bis zu Hannes Wohnung. Harrymarry hatte kein Geld für ein Taxi. Ihre Rente verspätete sich, genauer gesagt, die Überweisung irrte zwischen Adressen, die sie längst hinter sich gelassen hatte, hin und her.
Es war am frühen Montag abend. Die beiden Nächte unter freiem Himmel waren schlimmer gewesen als alle, an die Harrymarry sich erinnern konnte. In der Nacht zum Sonntag hatte sie hinter dem Müll auf einer Tankstelle einen Wärmerost gefunden, so gegen fünf Uhr morgens. Sie hatte von sauberen Laken und warmem Essen phantasiert und zum ersten Mal in ihrem Leben wirkliche Todesangst gehabt. Der Schuß, den sie sich bei Hanne gesetzt hatte, war ein Fehlgriff gewesen. Beim nächsten Mal würde sie in den Keller gehen. Der Schlüssel hing hinter der Wohnungstür in einer Ecke, in einem Häuschen, auf das ein Hängeschloß gemalt war. Harrymarry hatte den Kellerraum schon inspiziert. Sie hatte von dort ein Paar Stiefel mitgenommen, aber nur leihweise. Die Stiefel waren zu groß, und nach fast drei Tagen unter freiem Himmel fühlte es sich an, als hätte sie ebensogut Pumps tragen können. Es war noch nicht mal neun. Auf dem Bankplass war erbärmlich wenig losgewesen. Die Familienväter waren noch mit Weib und Kind beim Weihnachtseinkauf, und für sturzbesoffene Teilnehmer von Weihnachtsfeiern, die das Fest mit einem billigen Fick abrunden wollten, war es noch zu früh. Einige kleine Mädels hatten sich in Harrymarrys Ecke breitgemacht. Für einen Streit hatte Harrymarry keine Kraft gehabt. Sie konnte kaum noch klar sehen, wußte nicht einmal genau, ob es drei Mädels gewesen waren oder vier.
»Verdammt, ich laß mir kein’ Scheiß bieten«, wiederholte sie wütend und rang um Atem, während sie den Schlüssel aus dem BH fischte und die Wohnungstür aufschloß.
Sie humpelte in die Küche und fühlte sich ganz wie zu Hause. Angesichts einer Schale mit schwarzen Oliven im Kühlschrank schnitt sie eine Grimasse. Ihr Blick wanderte weiter zu einem Stück Lachs, und zwischen den traurigen Überresten eines Gebisses lief ihr das Wasser im Munde zusammen.
Nach fast fünfundvierzig Jahren auf der Rolle waren Harrymarrys Kindheitserinnerungen in einem grauen Nebel verschwunden. Das einzige, woran sie sich wirklich erinnerte, war eine Familie, die sich zwei Jahre lang um sie gekümmert hatte; sie war mit sieben zu ihnen gekommen. Die hatten ein Räucherhäuschen gehabt. Mama Samuelsen war lieb und dick gewesen wie eine Tonne. Sie hatte ein Gebiß aus Tromsø und einen großzügigen Schoß, und weil sie keine eigenen hatte, hatte sie vier uneheliche Gören aufgenommen. Abends kam Papa Samuelsen ins Wohnzimmer, brachte den schweren Geruch von Räucherlachs mit herein und warf Lachshaut in eine Bratpfanne über dem offenen Feuer. Die Kinder aßen sich an knuspriger Fischhaut und fettem Lachs satt und tranken heißen Kakao dazu. Marry lernte lesen und schreiben. Papa Samuelsen lachte und klatschte in die Hände, wenn die Kleine mit Kopierstift seine Abrechnungen korrigierte; sie lächelte glücklich mit blauem Mäulchen und bekam zwei Bonbons für ihre Leistung. Dann war Mama Samuelsen gestorben, und die Kinder hatten weiterziehen müssen. Papa Samuelsen hatte geweint und gefleht, doch die Obrigkeit hatte sich nicht erweichen lassen. Marry hatte in ihrem Leben zwei gute Jahre gehabt; die Jahre begannen, als sie sieben war, und endeten zwei Tage vor ihrem neunten Geburtstag.
Harrymarry bugsierte den Lachs, vier Kartoffeln und eine halbe Tasse Sauerrahm auf den Küchentisch. Noch immer trug sie ihren Nylonpelz. Noch immer fror sie wie ein Hund.
»Petze«, murmelte sie, als sie in der Türöffnung Nefis entdeckte.
»Hello. How are you?«
Harrymarry schüttelte den Kopf. Wie gut, daß niemand zu Hause gewesen war, als sie ankam. Sie hatte gehofft, essen und sich vielleicht noch aufwärmen zu können, ehe sie wieder vor die Tür gesetzt wurde. Gute Dinge kamen und gingen in Harrymarrys Leben und waren nie von Dauer.
»Das Schicksal gibt, und das Schicksal nimmt«, sagte sie und
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