Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Schuhe!«
Eine Kollegin von Harrymarry krümmte die Zehen auf dem Betonboden, wie um sich festzukrallen. Das Nerzcape von der Heilsarmee wies viele kahle Stellen auf. Die braune Tüte mit ihren Habseligkeiten war ihr schon ausgehändigt worden. Dabei handelte es sich um drei Packungen Kondome und ein kleines Fotoalbum. Ein Polizist versuchte sie aus dem Arrest zu schieben.
»Schuhe«, brüllte sie und stemmte sich dagegen. »Ich will meine Schuhe!«
Ein Mann stützte sich auf den roten Absperrbügel und kotzte.
»Verdammtes Schwein«, fauchte der leitende Beamte der Abteilung.
Es sah aus, als verlöre das Personal die Lage aus dem Griff. Hanne Wilhelmsen hielt sich die Hände wie Muscheln hinter die Ohren und beugte sich über den Tresen.
»Kann denn niemand der Frau ein Paar Schuhe geben? Sie wird doch erfrieren!«
Sie kannte den Arrestleiter als besonnenen Mann. Jetzt schleuderte er seinen Klemmblock auf den Boden und tobte: »Das hier ist keine Abteilung der Heilsarmee, Hauptkommissarin. Die da hatte keine Schuhe, als sie gekommen ist, und sie kriegt auch keine, wenn sie wieder geht. Kapiert?«
Dem Kollegen, der die Nutte im Pelz noch immer festhielt, schrie er zu: »Schaff dieses Drecksweib raus. Und du …« Er holte Luft und richtete den Zeigefinger auf Hanne Wilhelmsen, wie um sie zu erschießen. »… misch dich bitte nicht in meine Angelegenheiten! Das ist hier doch verdammt noch mal kein Polizeigewahrsam mehr, sondern der Vorhof der Hölle am freien Tag des Teufels!«
Dieser Ausbruch erleichterte ihn. Er fuhr sich über den blanken Schädel und murmelte etwas Unhörbares, dann fügte er resigniert hinzu: »Hanne, kannst du deine Festnahme in Nummer fünf nicht ein wenig beruhigen? Die macht da drinnen den totalen Aufruhr!«
Hanne kam zu dem Schluß, daß es wichtiger war, den Arrestleiter bei Laune zu halten, als einer durchfrorenen Nutte Schuhe zu besorgen. Sowie die schwere Eisentür zwischen Vorraum und Zellenteil geöffnet wurde, brachen Lärm und Gestank über sie herein. Ein schweißnasser junger Beamter, der offenbar mit den Tränen kämpfte, schlüpfte an Hanne vorbei, als er endlich eine Fluchtmöglichkeit entdeckt hatte.
Fünf Stunden in der Kahlzelle waren an Tussi Gruer Helmersen durchaus nicht spurlos vorübergegangen. Der Lippenstift war in ihren Fältchen verschwunden und bildete um die schmalen Lippen ein sternförmiges rotes Muster. Der lila Turban war zum Taschentuch umfunktioniert worden und wies schwarze Schminkeflecken auf. Unter den Augen mischten sich Khajal, Wimperntusche und Schatten.
»Genossen«, schrie sie in Fistelstimme und preßte ihr Gesicht gegen das Gitter in der Tür. »Schuldige und Unschuldige! Sammeln wir uns zu einer gemeinsamen …«
Sie konnte ihr Publikum zwar nicht sehen, aber es meldete sich nachdrücklich zu Wort. Einige flehten um Ruhe. Andere stimmten mit aufmunternden Zurufen ein. Ein überaus betrunkener Mann machte sich in die Hose und fand es zum Totlachen, sein Kunstwerk zu beschreiben. Ganz hinten am Gang skandierte ein tiefer Bass immer wieder: »Bullenschweine, Bullenschweine!«
Als Hanne Wilhelmsen die Tür zu Tussis Zelle aufschloß, verstummte der häftlingspolitische Appell.
»Sie müssen mich rauslassen«, flüsterte Tussi verzweifelt. »Ich ertrage das nicht. Bitte, Frau Polizei!«
Hanne erklärte, daß nur noch zwei Nachbarn vernommen werden müßten. »Das dauert nicht mehr lange, Frau Helmersen. Eine Stunde vielleicht, dann dürfen Sie sicher gehen.«
»Eine Stunde …«
»Unter der Voraussetzung, daß Sie sich brav dort auf die Pritsche setzen und erst mal ganz leise sind.«
Tussi stapfte über den Betonboden, setzte sich stocksteif hin und legte die Hände in den Schoß. Ihr Blick war hoffnungslos verwirrt, und Hanne zögerte kurz, als sie die Zellentür hinter sich abschloß. Es hätte verboten werden sollen, alte Menschen zu verhaften.
Und Kinder auch, dachte sie, als sie einen Blick in die nächste Zelle warf.
Der Insasse war, körperlich gesehen, zwar erwachsen. Doch das Gesicht, das sich zu ihr hob, ließ sie innehalten. Der Junge mochte um die Zwanzig sein. Er weinte lautlos.
»Wie heißt du?« fragte Hanne, ohne zu wissen warum.
»Daniel Åsmundsen«, schluchzte er und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz ab. »Können Sie mir helfen?«
»Was für Hilfe brauchst du?«
»Können Sie jemanden für mich anrufen?«
»Jemanden anrufen«, wiederholte Hanne und hielt Ausschau nach dem Arrestleiter. »Du hast das
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