Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
schon mal jemanden im Stich gelassen habe. Das habe ich.«
Er hätte ihr gern von Suzanne erzählt. Er hätte gern ihre Hand genommen und sich noch einmal auf die kalte Bank gesetzt, um aus Hannes Körper, ihren Augen und Händen Wärme zu saugen und ihr zu gestehen, daß sämtliche Ermittlungen aus dem Gleis gelaufen waren, als ihm weniger als vierundzwanzig Stunden nach dem Mord in der Tür des Entré eine Frau begegnet war.
Suzanne war erst fünfzehn gewesen, als er sie kennenlernte. Ein frühreifes und schönes Mädchen aus guter Familie. Er selbst war ein schlaksiger Polizeischüler gewesen und schon zweiundzwanzig, als er sich kopfüber in eine Verliebtheit stürzte, mit der er einfach nicht umgehen konnte. Daß die Beziehung zwischen ihnen strafbar war, war das eine. Das an sich machte ihm schon eine Höllenangst, sowie die erste Begeisterung sich gelegt hatte. Die Angst drängte ihn schließlich zurück, weg von ihr. Er war Polizeianwärter, und sie rauchte Hasch. Er lief davon. Änderte seine Telefonnummer. Zog um und zog ein weiteres Mal um, während Suzanne immer kränker wurde. Zwischen ihren psychotischen Zusammenbrüchen fand sie ihn. Er hatte nie begriffen, wie. Sie rief an, am liebsten mitten in der Nacht. Sie schrieb Briefe. Anklagende, liebevolle Briefe, in denen sie um Hilfe flehte. Sie kam zu ihm; lief aus dem Krankenhaus davon und kratzte sich an seiner Zimmertür die Nägel blutig. Billy T. zog ein weiteres Mal um. Endlich, nach zwei Jahren der Angst vor Entlarvung, Bestrafung, schmählicher Entlassung aus dem Polizeidienst, kehrte Stille ein.
Er hatte Suzanne vergessen, weil ihm nichts anderes übriggeblieben war. Um seiner selbst willen und weil er keine Wahl hatte. So hatte er es damals gesehen.
»Ich habe …«
Es ging nicht. Er keuchte zweimal auf und hätte so gern gesprochen. Hannes Gesicht schien vor ihm zu leuchten; am Ende sah er nur noch ihre Augen. Die kalte Luft schnitt in seine Lunge, als er um Atem rang, aber er brachte kein Wort heraus. Er würde niemals von Suzanne erzählen können. Die Geschichte des Verrates an Suzanne war seine, daran konnte er niemanden teilhaben lassen. Statt etwas zu sagen, zog er Hanne an sich.
»Danke«, war alles, was er herausbrachte, und dabei drückte er die Lippen gegen Hannes eiskaltes linkes Ohr.
64
Sie hatte aufgeräumt in ihrem Büro. Die unzähligen Bücherstapel waren verschwunden. Der Muminvater saß oben in einem Regal und lehnte sich an eine üppige Topfblume an. Ihr Schreibtisch war, abgesehen von einer abgesägten Coladose voller Kugelschreiber, leer. Die Pinnwand war abgeerntet worden. An einem Haken neben der Tür hing ein Wintermantel aus dunkelblauer Wolle. Sie griff danach, als sie sie entdeckte. Sie sah besser aus als letztes Mal. Ihre Wangen hatten Farbe bekommen, und ihre Haare glänzten leicht im Licht von drei dicken Stummelkerzen, die in dem schmalen Gang auf einem Beistelltischchen standen.
»Gehen wir«, sagte sie und zog ihren Mantel an.
Billy T. und Hanne Wilhelmsen nickten.
Sie entfernte noch den Namenszug aus der Metallschiene, die an der gläsernen Bürowand angebracht war. Für einen Moment blieb sie stehen und betrachtete ihren Namen. Dann ließ sie die Buchstaben in ihrer Hand auseinanderfallen und steckte sie in die Tasche.
Verhör der unter Anklage stehenden Idun Franck (I. F.)
Verhör durchgeführt von Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen (H. W.) und stellvertretendem Hauptkommissar Billy T. (B. T.) Abgeschrieben von Sekretärin Rita Lyngåsen. Von diesem Verhör existieren insgesamt drei Bänder. Das Verhör wurde am Donnerstag, dem 23. Dezember 1999, um 11.30 auf der Osloer Hauptwache aufgezeichnet.
Angeklagte:
Franck, Idun, Personenkennummer 060545 32s033
Wohnhaft: Myklegardsgate 12, 0656 Oslo
Arbeitsplatz: Verlag, Mariboestgt. 13, Oslo
Telefon: 22 36 50 00
Die Angeklagte ist damit einverstanden, daß das Verhör auf Band aufgenommen und später ins Protokoll überführt werden wird. Anklage wird erhoben aufgrund Verstoßes gegen § 233,2. 2. Abschnitt, Strafgesetzbuch
H. W.:
Als Angeklagte in einem Strafverfahren haben Sie gewisse Rechte. Ich möchte gern auf dem Band haben, daß Sie darüber informiert worden sind. Sie können die Aussage verweigern. Sie haben ein Recht auf Anwesenheit Ihres Verteidigers während der Verhöre. Ihre Verteidigerin, Bodil Bang-Andersen, ist zugegen. Sie sind außerdem darüber informiert worden, daß die Anklage (Pause, Papierrascheln) … Sie liegt hier vor
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