Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
jungen Mann. Thale, Idun und Daniel lächelten in die Kamera, der Blick des alten Mannes war gewichtig und ernst.
»Familienbild?« Sie tippte kurz gegen das Glas.
»Ja. Das letzte von uns allen. Es ist im vergangenen Winter aufgenommen worden, am achtzigsten Geburtstag meines Vaters. Kurz vor seinem Tod.«
Hanne beugte sich vor und betrachtete das Bild. Silje hatte schon die Wohnungstür geöffnet; ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen, wandte sich ab und knöpfte sich die Jacke zu.
»Das ist also weniger als ein Jahr her«, sagte Hanne leise, ohne den Blick vom Bild zu wenden.
»Ja.«
Hanne Wilhelmsen spürte keine Erleichterung. Eine leise Wärme brannte unter ihrer Gesichtshaut. Sie wollte sich aufrichten, blieb aber gekrümmt stehen und starrte weiter auf das Bild. Daniel lächelte breit, so als könne nichts ihm etwas anhaben. Er war jung und stark und umgeben von Menschen, die er liebte. Hanne ließ ihren Finger über den Rahmen wandern, eine schwarze schmale Leiste rund um ein in einer Ecke gesprungenes Glas. Vielleicht war das Bild einmal zu Boden gefallen. Es hing ein wenig schief, und sie rückte es vorsichtig zurecht. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drehte sich zu Thale um. Sie hätte erleichtert sein müssen. Statt dessen empfand sie eine überwältigende, unerklärliche Enttäuschung.
Obwohl der Fall gelöst war.
63
Es war zwei Uhr nachts am 23. Dezember 1999. Die Straßen waren jetzt schneebedeckt. Noch immer wirbelten verirrte Flocken durch die Luft, doch während der letzten Stunde war der Himmel klarer geworden. Der Markvei diente jetzt schon seit zwei Monaten als Weihnachtsstraße, zwischen den Straßenlaternen hingen lange, mit Lichtern versehene Girlanden. Aber Sterne und Plastikmonde konnten die echte Ware nicht überstrahlen: Hanne Wilhelmsen schaute hoch und entdeckte den Großen Wagen, der langsam über Torshov dahinrollte. Aus alter Gewohnheit suchte sie den Polarstern, der am Nordhimmel gerade noch zu sehen war. Die Läden sparten durchaus nicht am Strom. Im Schein der Laternen hatte der Schnee einen warmen Gelbton. Am nächsten Morgen würde er sich in grauen Matsch verwandelt haben.
Billy T. war nicht mehr gereizt. Er wirkte apathisch. Sie hatte angerufen und um ein Gespräch gebeten, und er hatte sie nicht abgewiesen. Er war nur gleichgültig gewesen. Daß sie zu ihm kam, wollte er nicht. Tone-Marit und Jenny schliefen. Er selbst habe sich solche Tätigkeiten abgewöhnt. Auf der Wache hatte er sie auch nicht treffen wollen. Als sie einen Spaziergang durch Løkka vorschlug, war ein kaum hörbares Ja gekommen, dann hatte er schon wieder aufgelegt.
Er grüßte nicht. Eine kurze Kopfbewegung, als er aus seinem Haus kam, zeigte, daß er sie gesehen hatte – auf der anderen Straßenseite, unter einer Laterne. Er kam nicht zu ihr herüber, sondern ging einfach auf seiner Straßenseite weiter. Sie mußte laufen, um ihn einzuholen. Es war mitten in der Nacht, aber er fragte nicht einmal, was eigentlich los sei. Er war warm angezogen. Der Kragen seiner Lotsenjacke war hochgeschlagen, die Mütze hing ihm in die Augen. Um das Ganze hatte er einen langen roten Schal gewickelt. Er bohrte die Hände in die Taschen und schwieg.
»Du kannst nicht aufhören als Polizist«, sagte Hanne.
Ein anderthalb Meter hoher Porzellanwindhund starrte sie aus einem heftig dekorierten Fenster an, ein rotgekleideter Heiliger Drei König saß rittlings auf einem Rentier mit Elchgeweih. Hanne versuchte das Tempo zu drosseln.
»Du kannst gern wütend auf mich sein. Das kann ich dir nicht verbieten. Aber du solltest nicht meinetwegen alles andere aufgeben.«
Er blieb stehen. »Deinetwegen?« Er schnaubte und mußte sich mit dem Jackenärmel den Rotz abwischen. »Sehr komisch. Als ob du in diesem Zusammenhang irgendeine Bedeutung hättest!«
Sofort setzte er sich wieder in Bewegung. Lief auf den Zebrastreifen in der Sofienberggate, ohne sich vorher umzusehen. Ein Taxi hupte und geriet ins Schlingern. Billy T. ließ sich davon nicht beeindrucken. Er überquerte den Olaf Ryes Plass.
»Können wir uns nicht setzen?«
Hanne packte ihn bei der Jacke. Sie standen an dem runden Becken mitten auf dem Platz, es war halb voll von Schnee und Müll. Ein streunender Hund kam auf sie zugelaufen. Der Boxer zitterte vor Kälte, wedelte aber optimistisch mit dem Schwanz und steckte seine stumpfe Schnauze zwischen Hannes Beine.
»He«, sagte sie und schob ihn weg. »Hier. Die habe ich
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