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Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt , Berit Reiss-Andersen
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Vorsichtig, um selbst nicht gesehen zu werden, lugte sie durch den Vorhangspalt. Ein Mann ging unsicher über den Bürgersteig. Er schien betrunken zu ein. Als er die Bank vorn an der Straße erreicht hatte, stützte er sich darauf und drehte sich zu dem Mietshaus um. Vilde zog sich blitzschnell zurück. Sie hatte die Jacke des Mannes erkannt. Was kein Wunder war, denn sie hatte sie ihm vor weniger als zwei Jahren geschenkt, damals, als sie ein Paar gewesen waren und bald heiraten wollten.

15
    Sie hätte am liebsten kehrtgemacht. Für einen Moment bereute sie, nicht den Mantel mit dem breiten, hochklappbaren Revers angezogen und vielleicht auch eine Mütze aufgesetzt zu haben. Etwas, worin sie sich hätte verstecken können.
    Die Wache sah aus wie immer. In das eine oder andere Fenster hatte ein optimistischer Mensch, der noch immer an Weihnachten glaubte, eine brennende Kerze gestellt, um so etwas wie Weihnachtsstimmung zu erzeugen. Ansonsten war alles grau. So, wie es immer gewesen war. Der Hang, der zum Haupteingang führte, war steil wie immer, und auf dem Weg nach oben knöpfte sie ihre Jacke auf. Vor den schweren, vertrauten Stahltüren blieb sie stehen. Noch konnte sie umdrehen, doch sie wußte, damit würde sie nur etwas aufschieben, das doch unvermeidlich war. Sie holte tief Luft. Dann stemmte sie sich gegen die Tür und betrat das Foyer.
    Der Geruch ließ sie aufkeuchen.
    Hanne Wilhelmsen hatte sich nie klargemacht, daß die Wache einen Geruch hatte, einen kaum wahrnehmbaren Geruch von Bürogebäude und Schweiß, von Angst und Arroganz, von Papier, Metall und Bohnerwachs. Es roch nach Polizei, und sie ging zum Fahrstuhl.
    »Hanne? Hanne, bist du das?«
    Erik Henriksens rote Haare sträubten sich, er glotzte mit offenem Mund.
    »The one and only.«
    Hanne versuchte wirklich zu lächeln. Sie spürte, wie die Lederjacke an ihrem Hemd festzukleben begann, und wäre am liebsten verschwunden.
    »Wo hast du … wo warst du die ganze Zeit? Bist du wieder da … so richtig, meine ich? Und wie geht’s dir überhaupt?«
    Der Fahrstuhl machte pling. Hanne drängte sich an ihrem ehemaligen Kollegen vorbei und sprach ein Stoßgebet in der Hoffnung, daß die Türen sich vor seiner Nase schlossen.
    »Bis nachher«, murmelte sie und wurde erhört.
    Das Gerücht schien schneller zu sein als der Fahrstuhl. Im sechsten Stock hatte sie das Gefühl, daß alle sie anstarrten. Vor dem Eingang zur Kantine standen fünf Menschen, die allesamt schwiegen und offenbar gar nicht zum Essen wollten. Sie nickte im Vorübergehen halbherzig jemandem zu. Die Blicke der anderen brannten ihr im Rücken, als sie über die Galerie zum Büro des Polizeidirektors ging. Das leise Flüstern wurde zur immer eifrigeren Diskussion, je weiter sie sich entfernte.
    Am Ende konnte sie sich nicht beherrschen.
    Sie fuhr herum, und die fünf hatten es plötzlich sehr eilig.
    Als ihr Blick über die Galerie auf der anderen Seite des sieben Etagen hohen Foyers schweifte, sah sie ihn. Im zweiten Stock, in der blauen Zone. Er blieb stehen, lehnte sich aufs Geländer und schaute aus zusammengekniffenen Augen zu ihr hoch. Er war so tief unten, daß sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte.
    Ein Irrtum war trotzdem ausgeschlossen.
    Billy T. zuckte mit den Schultern und wandte ihr den Rücken zu.
    Sie selbst ging weiter zum Büro des Polizeidirektors, um in Erfahrung zu bringen, ob sie noch einen Arbeitsplatz hatte.

16
    »Ich dachte, die Frau wär verrückt geworden. Das habe ich jedenfalls gehört. Daß sie in der Anstalt war. Zwangseinweisung, habe ich gehört.«
    Beate aus dem Vorzimmer zog kichernd am Träger ihres Kleides. Dann trank sie einen viel zu großen Schluck Aquavit. Eine dünne Alkoholwolke hing über dem Tisch, und Karianne wich zurück.
    »Ich habe gehört, sie sei nach China gefahren, um ein Kind zu adoptieren. Das hab ich von jemandem, der sie wirklich gut kennt. Und da hätte es doch sein können, daß sie im Mutterschaftsurlaub ist oder wie das heißt.«
    Karianne Holbeck sah heute verändert aus. Normalerweise trug sie weite, unscheinbare Kleidungsstücke, die außer ihrem kräftigen Bau nichts verrieten. Sie schminkte sich nie. In der Regel war sie blaß, ihre Wimpern und Brauen fast weiß. Ihr peinlicher Hang zum Erröten hatte freies Spiel. Die Kollegen nannten sie die »Ampel«, wenn sie sich unbelauscht glaubten.
    An diesem Abend war Karianne nicht wiederzuerkennen. Ein engsitzendes graues Samtkleid umschloß üppige Hüften und

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