Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Oberschenkel. Ihre großen Brüste saßen hoch. Die Haare ließ sie normalerweise offen hängen, vermutlich, um sich dahinter verstecken zu können, wenn sie rot wurde. Jetzt mußte sie beim Friseur gewesen sein. Diese kunstvolle Frisur konnte unmöglich ihr eigenes Werk sein. Und das Makeup auch nicht; sie sah aus, als sei sie eben erst einer großen TV-Unterhaltungsshow entsprungen.
»Ich hab mich wohl ein bißchen zu sehr in Schale geworfen«, flüsterte sie Severin Heger zu und umklammerte ihr Bierglas. »Sieh dir doch die anderen an!«
Er setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die bloßen Schultern. Karl Sommarøy stand am Tresen und unterhielt sich mit einem Kollegen über Autos. Er hatte sich gerade einen vier Jahre alten Audi A 6 gekauft und klagte darüber, daß bereits nach zwei Tagen der Turbo seinen Geist aufgegeben hatte. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und er trug Jeans. Zwar hatte er zur Feier des Tages einen Schlips umgebunden, doch der hing schon auf halbmast und würde innerhalb der nächsten Stunde als Kopfputz enden.
»Du siehst toll aus«, flüsterte Severin Karianne ins Ohr. »Die tollste Frau heute abend. Die anderen machen sich lächerlich. Du dagegen bist … prachtvoll. Prost!«
Ihre Gesichtsfarbe näherte sich einem Violetton, und sie umklammerte ihr Glas noch energischer.
»Dieses Lokal ist anders, als … als ich erwartet hatte, irgendwie«, stammelte sie und schaute sich mit gesenktem Kopf um.
»Nicht gerade ein Luxusschuppen, nein. He! Du, Karl!«
Sommarøy fuhr gereizt herum.
»Hast du keine anderen Klamotten?«
»Jetzt hör aber auf. Ich dachte, wir wollten Pizza essen!«
Das heruntergekommene Restaurant in der Brugata lag nur vier oder fünf Sirenentöne von der Wache entfernt. Die für die Weihnachtsfeier Zuständigen hatten sich aus purer Faulheit dafür entschieden. Braune Tische, rotkarierte Tischdecken und in alte Mateusflaschen gesteckte Kerzen sollten vermutlich ein französisches Bistro vortäuschen.
Karl Sommarøy schob die Pfeife in den Mund und setzte sich an den Tisch. »Wo hier schon die Rede von Essen ist, was sagt ihr?«
Niemand fühlte sich berufen, einen Kommentar zu den angebrannten Schafsköpfen abzugeben. Eine halbe Stunde zuvor waren sie fast unangerührt in die Küche zurückgewandert.
»Habt ihr denn heute Hanne Wilhelmsen nicht gesehen?«
Beate aus dem Vorzimmer nuschelte schon. »Ischabschie geschehen!«
Billy T. saß vergrätzt an der Schmalseite des Tisches. Er hatte kaum ein Wort gesagt, seit er viel zu spät erschienen war. Er trank auch kaum etwas und schaute alle zehn Minuten auf die Uhr. Jetzt ließ er sich auf seinem Stuhl zurücksinken und schlug die Arme übereinander.
Plötzlich lachte der Polizeibeamte Klaus Veierød los. »Ich habe gehört, daß sie einen Kriminalroman schreibt. Machen das zur Zeit nicht alle?«
Veierød war vermutlich der erfahrenste Fahnder unter ihnen. Er hatte in allen Abteilungen der Wache gearbeitet. Drei Jahre zuvor war er von der Wirtschaftskriminalität zur Gewalt versetzt worden. Er war gründlich, zuverlässig und absolut phantasielos. Längst hatte er sich damit abgefunden, daß er niemals zum Hauptkommissar befördert werden würde, aber das war ihm egal. Wenn er wollte, könnte er in sechs Jahren in Pension gehen. Dann würde er seine ganze Zeit seiner Sammlung von alten Kriegsutensilien widmen können. Er spielte mit dem Gedanken, in der alten Scheune bei seinem Ferienhaus ein kleines Museum einzurichten. Damit wäre er sein eigener Herr, und niemand würde sich einmischen können.
Klaus Veierød mochte den überhitzten Ermittlungsstil in der Gewalt nicht. Und am allerwenigsten hatte ihm der harte Kern um Hanne Wilhelmsen zugesagt. Als die Clique auseinanderfiel – durch Håkon Sands Beförderung zum Staatsanwalt und Hanne Wilhelmsens Verschwinden, nachdem der Fall des unter Mordverdacht stehenden Oberstaatsanwalts Halvorsrud endlich gelöst war –, war ihm das nur recht gewesen. An Wilhelmsens Begabung hatte er allerdings nie gezweifelt. Insgeheim hielt er sie für die beste Ermittlerin, die die Osloer Polizei jemals gehabt hatte. Was er nicht hatte ertragen können, war das Gefühl gewesen, ausgeschlossen zu sein. Solange Billy T. und Hanne Wilhelmsen noch untere Ränge bekleidet hatten, war die Sache halb so schlimm gewesen. Doch als Hauptkommissarin und Hauptkommissar waren sie einfach unausstehlich. Tuschelten und flüsterten und hatten hunderttausend Geheimnisse. Und das war
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