Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Polizei-Oberen resigniert und die ganze Abteilung stillgelegt. Alle hatten protestiert. Die Leute von der Gewalt hatten sich energisch für die Erhaltung der Gruppe eingesetzt, deren Erkenntnisse auch ihnen nützlich gewesen waren. Der Jugendschutz, der sich um Einsteigerinnen gekümmert und es immerhin geschafft hatte, viele vom Strich fernzuhalten, bis sie zwei Jahre älter waren, hatte sich fast heiser geschrien. Sogar die Nutten hatten protestiert. Das alles hatte nichts geholfen. Die Prosspan war aufgelöst, Inger Andersen und ihre Kolleginnen und Kollegen waren für andere Aufgaben freigestellt worden. Inger Andersen kannte sich wie niemand sonst in der Szene aus. Als Hanne zuletzt von ihr gehört hatte, hatte sie auf der Wache von Manglerud gearbeitet.
Hanne setzte sich ins Auto und schob sich den Stöpsel des Mobiltelefons ins Ohr. Dann zog sie ein Adreßbuch aus der Jackentasche. Nach einer nervtötenden Kette von Weiterschaltungen hatte sie Inger Andersen endlich an der Strippe. Die Kollegin war nach Stovner versetzt worden und dort mit Präventivmaßnahmen für Kinder und Jugendliche betraut.
»Die älteste Nutte der Stadt«, wiederholte Inger Andersen Hannes Frage. »Harrymarry. Marry Olsen. Sie war damals schon die Älteste und hat neun Leben. Wenn sie immer noch arbeitet, muß sie die älteste Straßennutte Nordeuropas sein. Würde mich auch nicht weiter wundern.«
»Harrymarry«, wiederholte Hanne langsam. »Und wo finde ich sie?«
Inger Andersen lachte so laut, daß Hanne den Stöpsel aus dem Ohr reißen mußte.
»Wo du eine Nutte findest? Auf der Piste natürlich. Falls Harrymarry noch lebt, findest du sie auf dem Strich. Viel Glück!«
24
»Das hat ewig gedauert. Über eine Stunde mußten wir auf die letzte Zeugin warten. Haben wir irgendwo noch Strümpfe?«
Die Anwältin Karen Borg hinkte zum Rezeptionstresen und musterte unterwegs ihre linke Wade. Drei Laufmaschen zogen eine breite Spur vom Schuh bis zur Kniekehle.
»Und die Unterlagen aus Brønnøysund, die ich beantragt hatte, sind die gekommen?«
Das Telefon klingelte.
»Kanzlei Borg. Nein. Sie ist leider noch nicht im Haus. Kann ich etwas ausrichten?« Die Sekretärin legte eine Hand auf die Sprechmuschel und flüsterte mit einem Nicken zum Aktenschrank in der Ecke: »Dritte Schublade links. Strümpfe. Die Unterlagen sind schon auf deinem Schreibtisch. Und hier …« Sie hob einen Stapel gelber Klebezettel auf. »Danke«, sagte sie dann ins Telefon. »Die Nummer ist notiert.«
Die Sekretärin legte auf. Karen Borg überflog die Mitteilungen.
»Vier Anrufe von Claudio Gagliostro. Ungeduldiger Knabe.«
»Ich würde eher von wütend sprechen, fürchte ich. Er hat achtmal angerufen. Am Ende hatte ich keine Lust, noch weitere Zettel zu schreiben. Es wäre wohl angebracht, vor dem nächsten Termin mit ihm zu sprechen. Noch …« Sie schaute aus zusammengekniffenen Augen durch die halbe Brille, die auf der Spitze ihrer beeindruckenden Nase balancierte, auf ihre Armbanduhr. »… sechzehn Minuten, dann kommt Vilde Veierland Ziegler. Dieser Gagli … Galci …«
»Gagliostro.«
»Genau. Er droht damit, bei der Anwaltskammer Klage gegen dich zu erheben.«
Karen Borg schnaubte. »Der kann beim König Klage gegen mich erheben, wenn er will, solange er meine Fragen beantwortet. Ich rufe ihn an. Und du …«
Sie versuchte, ihren Talar, ihren Diplomatenkoffer, ihren Mantel, ein Paar Strümpfe und eine Kaffeetasse in ihr Büro zu tragen. Die Tasse fiel auf den Boden.
»Scheiße. Tut mir leid.«
»Ich bring das schon in Ordnung. Geh du an deinen Schreibtisch.«
Johanne Duckert war über zwanzig Jahre älter als ihre Chefin. Sie war in Vinderen die Hausnachbarin der Anwältin und hatte das Angebot, halbtags bei ihr zu arbeiten, im Sommer zuvor auf einem Gartenfest angenommen. Frau Duckert war nie berufstätig gewesen, aber es gab doch Grenzen für die Zeit, die einem gepflegten Garten gewidmet werden konnte. Nachdem ihr Mann zwei Jahre zuvor gestorben war, hatte sie oft mit dem Gedanken gespielt, sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Daraus war erst etwas geworden, als Karen erwähnte, daß sie dringend Hilfe brauche, sich aber keine leisten könne.
»Geld hab ich selber genug«, hatte Frau Duckert glücklich gesagt und war mit ihren Blumentöpfen und Fotos von ihren Enkelkindern in der Kanzlei am C. J. Hambros plass eingezogen.
Einige Jahre zuvor, während ihrer Zeit in einer großen Kanzlei mit dem Schwerpunkt
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