Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Wirtschaftsrecht, hatte Karen Borg zwei Sekretärinnen gehabt. Die waren jung gewesen, hatten Papiere und Ausbildung mitgebracht, vier verschiedene Textbearbeitungsprogramme beherrscht und diskret mit den Mandanten geflirtet. Frau Duckert hatte erst jetzt, mit einundsechzig, wirklich Bekanntschaft mit einer Schreibmaschine geschlossen, verfügte aber über eine bewundernswerte Orthographie, eine farbenfrohe Sprache, an die Karen sich erst hatte gewöhnen müssen, und blieb auch bis sechs oder sieben Uhr abends in der Kanzlei, ohne Überstundenhonorar zu verlangen. Frau Duckert war aufgeblüht – zusammen mit den Rosen, die in Töpfen und Vasen überall im Vorzimmer standen.
Zu Karen Borg kamen keine Männer in Maßanzügen mehr. Wer sich einstellte, waren die Frauen dieser Männer. In Rotz und Tränen aufgelöst schleppten sie sich in die Kanzlei. Nach dreißig Ehejahren sollten sie durch ein jüngeres, smarteres, schöneres Exemplar ersetzt werden; sie brachen zusammen, weil der Ehemann sie bei der Güterteilung aus ihrer bisherigen Umgebung herausreißen und bestenfalls in einer Hochhauswohnung in einer Satellitenstadt unterbringen wollte. Sie saßen mit einer Schachtel Kleenex auf dem Schoß in Karen Borgs Mandantinnensessel und hatten eben erfahren, daß der Gatte nach einem langen Leben und drei erwachsenen Kindern nun glaubte, in einer Achtundzwanzigjährigen die wahre Liebe gefunden zu haben.
Diese Mandantinnen brauchten keinen Flirt. Sie brauchten Frau Duckerts Plätzchen und ihren Kaffee mit einer kleinen Zugabe zur Stärkung der Nerven. Sie brauchten Frau Duckerts warme Hand in ihrer und ein beruhigendes Gespräch über Gartenpflege und Schwiegertöchter, und denken Sie doch nur an Ihre reizenden Enkelkinder.
Die Männer, die zur Anwältin Borg kamen, wußten kaum, was ein Flirt war. Sie hatten dünne Beine in engen Hosen und zerstochene Arme. Auch sie bekamen Kaffee, Plätzchen und gute Worte von Frau Duckert, die Zugabe zum Kaffee allerdings wurde ihnen vorenthalten.
»So edle Ware tut denen einfach nicht gut«, sagte sie oft. »Sie werden krank davon.«
Karen Borg hatte der Stimme am anderen Ende der Leitung lange zugehört. Der Mann war außer sich, und es empfahl sich, ihn ausreden zu lassen. Allmählich beruhigte er sich ein wenig.
»Ich kann ja verstehen, daß Ihnen das unangenehm ist, Gagliostro«, sagte sie ruhig. »Aber die Sache ist nun einmal nicht Ihre Privatangelegenheit. Sie können mir jetzt antworten oder damit warten, bis das Nachlaßgericht Sie fragt.«
Gagliostro regte sich wieder gewaltig auf, und Karen Borg mußte ihm ins Wort fallen.
»Sie können eben nicht behaupten, daß alles Ihnen gehört«, sagte sie unverändert ruhig. »Das stimmt nicht. Vilde als Ehefrau hat das Recht, sich über die finanzielle Situation ihres Mannes zu informieren. So will es das Gesetz, Gagliostro. Ich kann …«
Eine heftige Tirade zwang sie, den Hörer zwanzig Zentimeter von ihrem Ohr wegzuhalten.
»Hören Sie.« Sie richtete sich auf und hob die Stimme. Das half. »Wenn Sie meinen, daß alle Anteile Ihnen gehören, können Sie mir dann nicht einfach den Beweis faxen? Wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, besteht doch gar kein Grund zur Aufregung. Schön. Das ist also abgemacht.«
Karen Borg wählte eine andere Nummer.
»Johanne, kannst du mir das Fax vom Entré bringen, sobald es da ist?«
Sie streifte die Schuhe ab und zog ihre Strumpfhose aus, während sie die Unterlagen auf Ihrem Schreibtisch überflog. Sie hatte die neuen Strümpfe kaum an, als auch schon Vilde Veierland Ziegler an die Tür klopfte.
Die junge Witwe war selbst für diese Jahreszeit ungewöhnlich bleich. Karen hatte den Eindruck, daß sie während der vier Tage seit ihrer letzten Begegnung noch weiter abgemagert war. Sie schenkte aus einer Thermoskanne eine Tasse Tee ein und tunkte einen kleinen Holzlöffel in ein Honigglas.
»Hier«, sagte sie und rührte sorgfältig um. »Trinken Sie das.«
Vilde starrte die Tasse apathisch an, ohne sie entgegennehmen zu wollen. Karen wußte, daß sie keinen Versuch unternehmen durfte, ihre Mandantin zu trösten. Die würde sofort zusammenbrechen. Es war noch die Frage, ob die kleine Frau im Mandantinnensessel neuen Informationen überhaupt zugänglich war. Sie mußte sich sehr einfach ausdrücken.
»Kopf hoch. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Da ist zum einen die Wohnung in Sinsen. Wir wissen jetzt, daß sie dem Restaurant Entré gehört.«
Vilde sah sie zum ersten Mal
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