Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
anhaltender Husten brachte den Lautsprecher zum Knacken.
Hallo? Hallo? Was ist passiert? Mit wem spreche ich da?
… toter Mann. Bei euch auffer Treppe.
Können Sie bitte deutlicher sprechen?
Draußen. O Scheiße. Etwas fiel auf den Boden.
Teufel auch, bei euch, sach ich doch. Nich so lahmarschig, Mensch. Toter. Bei euch auffer Treppe. Auffer Rückseite, Mensch!
Das war alles. Hanne schaltete das Tonbandgerät aus und drehte sich zum Universitätsdozenten Even Hareide um, der seine Begeisterung angesichts dieses Auftrags nicht verbergen konnte. Schon eine halbe Stunde nach Hannes Anruf hatte er sich bei der Rezeption gemeldet.
»Vika«, sagte er entschieden und faltete die Hände über seinen Knien. »Gute alte Ost-Osloer Aussprache. Die Verschleifung der bestimmten Artikel ist besonders charakteristisch. Fast unmöglich, das in erwachsenem Alter noch so zu lernen.«
Hanne schloß die Augen, als ein langer Vortrag folgte über Sprachwissenschaft und Soziolinguistik, über Akzente, Dialekte und Soziolekte. Der Mann konnte ihr nichts sagen, was sie nicht schon beim ersten Hören des Bandes begriffen hätte. Die Rechnung für den überflüssigen Einsatz des Sprachforschers würde Billy T. in die Luft gehen lassen.
»Danke«, fiel sie Hareide plötzlich ins Wort. »Haben Sie eine Vorstellung, wie alt dieser Mensch sein könnte?«
»Ein erschöpfter alter Mensch.«
»Ja, das höre ich auch. Wie alt, schätzen Sie?«
»Sie hat wohl schon ein ziemlich langes Leben hinter sich.«
»Jetzt sag ich Ihnen, was ich glaube«, erklärte Hanne resigniert, »und dann sagen Sie, ob Sie mir zustimmen. Erstens …«
Sie schniefte und widerstand der Versuchung, sich eine Zigarette anzuzünden. Der Dozent schien geradewegs aus dem Wald zu kommen mit seiner altmodischen Nickelbrille und dem am Hals offenen Flanellhemd, den Soldatenstiefeln und der groben Taucheruhr um das rechte Handgelenk.
»… die Frau raucht. Rød Mix oder Teddy ohne Filter. Der Teer liegt dick auf ihren Stimmbändern.«
Even Hareide nickte zufrieden, als sei Hanne eine fleißige Studentin in einer mündlichen Prüfung.
»Ich vermute, sie nimmt Heroin«, sagte sie jetzt.
Hareides Augen weiteten sich, aber er schwieg.
»Das höre ich am charakteristischen … Druck? Kann man das so nennen?« Hanne legte die Finger um ihren Kehlkopf und stöhnte den nächsten Satz: »Die Stimme wird sozusagen hinausgepreßt und kippt ab und zu ins Falsett. Man hört es vor allem, wenn sie flucht. Als ihr irgend etwas auf den Boden fällt.«
»Doch. Ja.« Der Dozent schien sich seiner Sache nicht mehr so sicher zu sein.
»Ihr Genuschel kann auf Alkoholeinfluß oder Heroineinfluß oder beides zurückzuführen sein«, sagte Hanne. »Stimmen Sie dem zu?«
»Ja«, sagte Hareide. »Damit haben wir eine in die Jahre gekommene Heroinistin, die in Oslo wohnt. Das ergibt …«
»… eine alte Nutte, ganz einfach. Da wir wissen, daß der Anruf … danke, Hareide. Sie waren eine große Hilfe.«
Als der Mann das Zimmer verlassen hatte – nicht ohne sich erkundigt zu haben, wohin er die Rechnung schicken solle –, fühlte Hanne sich besser. Zum Glück hatte ein lichter Kopf das Band der Mordnacht gesichert. Irgend jemand hatte es sich am Montag morgen angehört, am Tag nach dem Mord. Seither hatte es vergessen, unberührt und falsch archiviert in der Asservatenkammer gelegen. Hanne hatte zwei Stunden gebraucht, um es zu finden.
»Eine alte Nutte«, flüsterte sie.
23
Die düstere Steinvilla stand auf einer kleine Anhöhe, etwas von der Straße zurückgesetzt. Ein Fliederbusch neben der Eingangstür verbarg die Hausnummer. Kein Schild erzählte, was das Haus enthielt, unter der Klingel war kein Name aufgeführt. Der Großhändler, der sich das Haus in den dreißiger Jahren hatte bauen lassen, hatte seine Gesellschaften im Schutz dicker Mauern und abschirmender Bleiglasfenster abgehalten. Danach war ein Pastor mit Gattin und drei kleinen Mädchen eingezogen. Sie hatten sich wohl kaum vorstellen können, daß das Haus als Wärmestube für Oslos am meisten heruntergekommene Nutten enden würde.
Hanne Wilhelmsen erklomm die letzten Treppenstufen.
Natürlich kannte die Polizei diese Herberge der Stadtmission, doch sie kam nur selten zu Besuch. Es war noch nicht lange her, da hatten die Nachbarn den Anblick von Spritzen in Gärten und auf Kieswegen satt gehabt. Deshalb hatte die Polizei eine Razzia durchgeführt. Sie waren um elf Uhr vormittags gekommen. Da waren alle
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