Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Vorstellung geleitet, was Hanne in der Situation gesagt oder getan hätte. Sie redeten miteinander, führten lange Gespräche, oft auch halblaut, wenn er glaubte, allein zu sein. Irgendwann hatte er schließlich ein Stadium erreicht, wo er nicht mehr soviel an sie dachte, jedenfalls nicht ständig, und wo er auch keine Selbstgespräche mehr führte. Noch immer litt er an einer namenlosen Sehnsucht, aber sie suchte seine Träume nicht mehr heim. Anwesend war sie trotzdem.
Wie eine Tote, hatte er gedacht. Es war möglich, damit zu leben, daß Hanne tot war. Im Grunde ist es besser so, hatte er gedacht und nicht mehr von ihr geträumt. Und dann war sie einfach wieder aufgetaucht. Der Schmerz über Hannes Rückkehr war schlimmer und unüberwindlicher als der, der ihn nach ihrem Verschwinden gelähmt hatte.
Inzwischen war es halb vier, und er konnte kehrtmachen. Er konnte Silje und Karianne auf Jagd nach der Reinen Faust schicken. Oder Klaus. Der war erfahren genug. Billy T. ließ den Motor an, schaute noch einmal zu dem Fenster hinauf und schaltete in den Rückwärtsgang. Dann überlegte er sich die Sache ein weiteres Mal. Die Gangschaltung heulte auf, als er, ohne zu kuppeln, wieder den ersten Gang einlegte.
Hanne war die Beste, die er hatte, und der Fall war so gut wie verpfuscht. Ohne sie würde alles zusammenbrechen. Sie hatte sich an diesem Morgen krank gemeldet. Vielleicht war sie erkältet. Vielleicht wollte sie sich auch die tägliche Besprechung ersparen. Er kannte sie nicht mehr. Hanne hätte ihn niemals gedemütigt. Früher nicht. Nicht so, wie sie gewesen war, früher. Sie hatte ihn oft zusammengestaucht, das schon, hatte ihn geneckt und gequält, Hanne Wilhelmsen hatte zeitweise die wahre Pest sein können. Aber niemals hätte sie ihn gedemütigt. So wie gestern. Er kannte sie nicht mehr. Er brauchte sie, und er mußte den Finger heben und auf den Klingelknopf drücken.
»Was wissu’n hier?«
Das Wesen, das die Tür öffnete, war offenbar eben erst aufgewacht. Strähnige farblose Haare standen nach allen Seiten ab, das Gesicht sah aus wie ein eingetrockneter Flußlauf. Sie hatte sich in einen viel zu weiten Morgenrock gehüllt, in den karierten, den Billy T. als Hannes erkannte.
»Wissu antwotn odda watn bissu in Rente gehn kanns?«
Harrymarry kniff die Augen zusammen, weil ihr dieser schöne Witz gelungen war, und zeigte beim Grinsen ihre nackten Zahnhälse. Billy T. brachte kein Wort heraus. Wie in einem Reflex zog er seinen Dienstausweis aus der Jackentasche. Zwei Tage reichlicher Nahrungszufuhr hatten sich auf Harrymarrys Redefähigkeiten ganz verblüffend ausgewirkt.
»Wissu zu mir odda zu Hanne? Ich geh nich freiwillig, un Hanne will au no nich aufstehen, glaubich.«
Dann latschte sie durch die Diele.
Billy T. folgte ihr zögernd.
»Wer ist da«, hörte er eine nasale Stimme aus dem Wohnzimmer rufen.
»Razzia«, schrie Harrymarry und schuffelte ins Bad.
Hanne lag unter ihrer Schlummerdecke auf dem Sofa und hielt eine Kaffeetasse in der Hand. Der Couchtisch war über und über von benutzten Papiertaschentüchern bedeckt.
»Hallo«, sagte sie leise. »Hallo, Billy T.Wie … schön. Daß du hereinschaust.«
»Deine Freundin is nich norma«, hörten sie einen dumpfen Ruf durch die Badezimmertür. »Die is nich wie annere Bulln.«
»Wer zum Teufel ist denn dieses Gespenst?« flüsterte er, so laut er konnte. »Hast du vollständig den Verstand verloren?«
»Pst!« Hanne legte den Zeigefinger an die Lippen. »Sie hat ein Gehör wie ein Adler und …«
»Die is nich verrück«, heulte es aus dem Badezimmer. »Die is toll. Ich geh gleich. Geil dich runner!«
»Vergiß den Schlüssel nicht«, sagte Hanne.
In Rekordtempo hatte Harrymarry ihre Arbeitskleidung und ein neues Gesicht angelegt. Sie hatte die Laméjacke durch ein schwarzes Kunstlederteil ersetzt, und ihr Rock war so kurz, daß Hanne im Schritt der Strumpfhose ein großes Loch erkennen konnte. Harrymarry hatte sich einen Schal zweimal um den Hals gewickelt und war, ohne zu fragen, in ein Paar eleganter Schuhe gestiegen, die Hanne gehörten. Sie zeigte den Schlüssel, der an einer Schnur um ihren Hals hing, und stopfte ihn sorgfältig in ihren BH, ehe sie zwei viel zu große Handschuhe überstreifte. Dann tippte sie sich als Abschiedsgruß an die Stirn und humpelte aus der Wohnung, ohne Billy T. auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Wohnt die hier? Hast du diese verdammte Nutte hier einziehen lassen?«
Er ließ sich in den
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