Das letzte Opfer (German Edition)
Ding durchs Fenster rauszog. Sie klammerte sich an mich und jammerte: ‹Norbert bringt mich um. Helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir, ich will nicht sterben.› Da dachte ich im ersten Moment, sieh an, da kommt Norbert schon. Der Kerl brüllte: ‹Die müsste man auf der Stelle ersäufen, fährt einen Mann zu Klump und rast einfach weiter.› Dem musste ich eine reinhauen, um ihn von ihr fern zu halten.»
Der Mann, der auf den Acker stürmte, war jedoch nicht ihr Bruder, sondern Marko Stichler, der gesehen hatte, wie der Ford Taunus den Radfahrer erfasste. Norbert tauchte erst eine gute Stunde später bei dem Acker auf, als man gerade dabei war, seinen demolierten Wagen zu bergen. Und für Marko Stichlers wütende Reaktion zeigte jeder Verständnis.
Es war ebenso verständlich, dass Karen befürchtet hatte, ihr Bruder würde sie windelweich prügeln. Er hing doch mit Leib und Seele an seinem Ford Taunus, hatte so viel Arbeit hineingesteckt und so viel Geld.
Doch als er sich im Krankenhaus über sie beugte, sagte er nur: «Mach dir bloß keine Gedanken ums Auto. Hauptsache, dir ist nichts passiert. Sarah und Christa sitzen seit Stunden draußen mit Jasmin. Soll ich sie reinrufen, oder willst du lieber schlafen?»
Sie wollte nicht schlafen, es nur hinter sich bringen, die Vorwürfe und Vorträge, die nun zwangsläufig kommen mussten, doch zu Anfang gab es keine. In den ersten Tagen erwähnte niemand den toten Mann, der behandelnde Arzt war strikt dagegen. Erst als man endlich Polizei an ihr Bett ließ, erfuhr sie, was sie angerichtet hatte. Danach war sie tagelang nicht ansprechbar, lag grübelnd in den Kissen und verlangte von jedem, der das Zimmer betrat: «Scheuch doch mal die Enten weg.»
Norbert vermutete, es seien Enten auf der Landstraße gewesen, denen sie hätte ausweichen wollen. Und weil es kurz hinter einer Kurve geschehen war, sagte er: «Wenn hinter einer Kurve plötzlich ein Hindernis auftaucht, hat auch jemand, der schon zwanzig Jahre fährt, keine Chance. Vielleicht hat der Radfahrer auch einen Schlenker gemacht. Der Mann war besoffen.»
Aber sie hätte ihn trotzdem sehen müssen, meinte sie. Sie hätte ihn nicht bloß sehen, sie hätte auch hören müssen, wie der Ford Taunus das Rad erfasste. Das musste gescheppert haben und gepoltert, als der Körper auf die Motorhaube schlug, so fest, dass er seine Konturen ins Blech drückte. Sein Kopf war gegen die Windschutzscheibe geprallt, musste unmittelbar vor ihren Augen gewesen sein. Und sie hatte nur Enten gesehen, wilde Enten und etwas Blut, ein Schmierstreifen auf der Windschutzscheibe. Der Schock, sagte der behandelnde Arzt. Für ihn war es eine normale Reaktion, dass sie sich nicht an den Unfallhergang erinnerte. Aber egal, wie man es ihr erklärte, für sie änderte es nichts.
Es sah danach zwei Jahre lang so aus, als sei ihr Leben nun endgültig ruiniert. Verhandlung vor der Jugendkammer am Kölner Landgericht, drei Jahre Sperrfrist für den Führerschein, achtzig Stunden Sozialarbeit in einem Altenpflegeheim. Damit käme sie noch glimpflich davon, meinte der Jugendrichter und verdonnerte sogar ihren Bruder zu einer Geldstrafe, weil Norbert seine Schlüssel auf die Garderobe gelegt hatte.
Der Richter meinte, nach der vorangegangenen Bettelei habe Norbert damit rechnen müssen, dass sie die Schlüssel nahm, vor allem, weil er sie bei der Suche nach einem anderen Autoschlüssel erwischt hatte. Einem jungen Mädchen so eine Rennmaschine zur Verfügung zu stellen, dürfe nicht ungestraft bleiben. Und wenn Norbert jetzt noch einmal den Mund aufmache, käme noch eine Ordnungshaft dazu.
Ihr Bruder legte sich in der Verhandlung mit allen Leuten an, bezweifelte die Erkenntnisse des Verkehrssachverständigen und die Aussage des Unfallzeugen, der keine Enten auf der Straße gesehen hatte. Er kannte Marko Stichler seit acht Jahren. Im September 1982 waren sie zum ersten Mal vor einer Diskothek am Clodwigplatz aneinander geraten, weil Norbert sein Auto nicht vorschriftsmäßig geparkt hatte.
Obwohl der Richter ihm bereits dreimal den Mund verboten hatte, erklärte Norbert auch noch: «Da hielt der mir einen Vortrag, ich würde eine Feuerwehrzufahrt blockieren. Das ging ihn doch einen Dreck an. Meine Kumpels haben ihm das auch klargemacht. Und jetzt lässt er seine Wut an meiner Schwester aus. Kann doch gar nicht sein, was er behauptet. Wenn Karen ihn unmittelbar vor der Kurve mit hundertzwanzig überholt hätte, wäre sie in die Botanik geflogen.
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