Das Letzte Protokoll
hat.
Grace steht lächelnd an der Haustür und sagt: »Kein Wilmot verlässt dieses Haus jemals für immer.« Sie sagt: »Und ni e mand, der von außerhalb hierher kommt, bleibt längere Zeit.«
Tabbi sieht Grace an und sagt: »Omi, quand est-ce qu'en revient?«
Und ihre Großmutter sagt: »En trois mois«, und tätschelt Ta b bis Kopf. Deine alte, nutzlose Mutter zieht wieder los, um Fu s seln in die Staubsaugerdüse zu stecken.
Tabbi macht die Haustür auf, um ihren Koffer zum Auto zu bringen. Diesem rostigen Schrotthaufen, der nach der Pisse i h res Vaters stinkt.
Nach deiner Pisse.
Und deine Frau fragt sie: »Was hat deine Großmutter dir eben gesagt?«
Und Tabbi dreht sich um. Sie verdreht die Augen und sagt: »Gott! Entspann dich, Mama. Sie hat bloß gesagt, dass du heute gut aussiehst.«
Tabbi lügt. Deine Frau ist nicht blöd. Sie weiß genau, wie sie heutzutage aussieht.
Was man nicht versteht, kann man deuten, wie man will.
Als Mrs. Misty Marie Wilmot dann wieder allein ist, als ni e mand sie sehen kann, da stellt deine Frau sich auf die Zehenspi t zen und legt die Lippen an die Innenseite der Tür. Ihre Fi n ger breiten sich über die Jahre und Vorfahren. Den Kasten mit den unbrauchbaren Farben zu Füßen, küsst sie die schmutzige Stelle unter deinem Namen, weil sie weiß, dass dort früher einmal de i ne Lippen gel e gen haben.
1. Juli
Nur um das festzuhalten, Peter: Ich finde es echt ätzend, wie du allen Leuten erzählst, dass deine Frau als Zi m mermädchen im Hotel arbeitet. Ja, kann sein, vor zwei Jahren war sie das mal.
Jetzt ist sie zufällig aber schon zweite Chefin des Bedienung s personals. Sie ist »Mitarbeiterin des Monats« im Hotel W a ytansea. Sie ist deine Frau, Misty Marie Wilmot, die Mutter de i ner Tochter Tabbi. Sie hat praktisch, um ein Haar, so gut wie e i nen Abschluss an der Kunstakademie. Sie geht zur Wahl und zahlt Steuern. Sie ist eine Königin unter den Sklaven, und du liegst im Koma, ein hirntotes Etwas mit einem Schlauch im Arsch, ang e schlossen an einen Haufen sehr teurer Geräte, die dich am Leben ha l ten.
Lieber geliebter Peter, wie kommst du dazu, mich eine fette alte Schlampe zu nennen?
Bei Koma-Opfern wie dir ziehen sich alle Muskeln z u sammen. Die Sehnen spannen sich immer straffer. Die Knie werden bis zur Brust hochgezogen. Die Arme kla m mern sich um den Bauch. Die Füße, die Waden, verkrampfen sich, die Zehen str e cken sich so starr nach unten, dass schon der bloße Anblick wehtut. Die Hä n de, die Finger krümmen sich ein, bis die Fingernägel ins Handg e lenk schneiden. Alle Muskeln und Sehnen werden kürzer. Die Muskeln in deinem Rücken, die Rückenstrecker, sie schrumpfen und ziehen deinen Kopf nach hi n ten, bis er fast deinen Arsch berührt.
Kriegst du das mit?
Zu diesem völlig verkrümmten und verknoteten Gebilde fährt Misty drei Stunden, um es im Krankenhaus zu bes u chen. Und da ist die Überfahrt mit der Fähre noch nicht mitgerechnet. Mit di e sem Gebilde ist Misty verheiratet. Mit dir.
Das ist die schlimmste Stunde des Tages für sie, die Stunde, wenn sie das schreibt. Es war deine Mutter, Grace, die mit der großartigen Idee ankam, dass Misty ein Koma-Tagebuch führen soll. Seeleute und ihre Frauen, die haben das früher auch so g e macht, hat Grace gesagt, ein Tagebuch von jedem Tag g e führt, an dem sie nicht zusammen waren. Das ist bewährte alte Seemann s tradition. Gute alte Tradition von Waytansea Island. Wenn sie nach langen Monaten der Trennung wieder zusa m menkommen, die Seemänner und ihre Frauen, tauschen sie ihre Tagebücher aus und erfahren so, was sie jeweils verpasst haben. Wie die K inder groß geworden sind. Wie das Wetter war. A l les. Und hier steht der alltägliche Mist, mit dem du und Misty, mit dem ihr euch früher beim Abendessen ang e ödet habt. Deine Mutter hat gesagt, das wäre gut für dich, das würde dir bei deiner Genesung helfen. E i nes Tages wirst du, so Gott will, die Augen aufmachen und Misty in die Arme nehmen und sie küssen, deine dich li e bende Frau, und hier drin stehen dann all die Jahre, die du verl o ren hast, in allen Einzelheiten liebevoll aufgezeichnet, Einzelhe i ten darüber, wie dein Kind groß g e worden ist, wie deine Frau sich nach dir gesehnt hat, und du kannst mit einer leckeren L i monade unterm Baum sitzen und das alles gut gelaunt nachh o len.
Deine Mutter, Grace Wilmot, die müsste erst einmal aus ihrem eigenen Koma aufwachen.
Lieber geliebter Peter. Kriegst du
Weitere Kostenlose Bücher