Das Letzte Protokoll
sie entweder auf einen Knochen stößt oder auf der a n deren Seite wieder herauskommt. Falls es blutet, wischt Misty das ab.
Wie nostalgisch.
Bei manchen Besuchen sticht sie dir die Nadel immer wieder ins Fleisch. Und flüstert: »Kriegst du das mit?«
Es ist ja nicht so, als ob du noch nie mit einer Nadel g e stochen worden wärst.
Sie flüstert: »Du lebst doch noch, Peter. Was ist damit?«
Wenn du in einem Dutzend Jahren, in hundert Jahren mit de i ner Limonade unterm Baum sitzt und das hier liest, solltest du wissen, dass das Beste an jedem Besuch immer die Sache mit der Nadel gewesen war.
Misty hat dir die besten Jahre ihres Lebens geschenkt. Misty ist dir nichts schuldig geblieben, außer einer fetten Scheidung. Du dummes, mieses Arschloch hast sie mit einem leeren Tank allein lassen wollen, genau wie du das immer tust. Außerdem hast du in allen möglichen Häusern Hassbotschaften an die Wände g e schrieben. Du hast versprochen, sie zu lieben, zu e h ren und für sie zu sorgen. Du hast gesagt, du würdest Misty Marie Kleinman zu e i ner berühmten Künstlerin machen, aber du hast sie nur arm und verhasst und einsam gemacht.
Kriegst du das mit?
Du lieber geliebter Lügner. Deine Tabbi lässt dich grüßen. In zwei Wochen wird sie dreizehn. Ein richtiger Te e nager.
Das Wetter heute ist teilweise wütend mit gelegentlichen To b suchtsanfällen.
Falls du dich nicht erinnerst: Misty hat dir Lammfellstiefel mi t gebracht, damit du warme Füße hast. Du trägst enge orthopäd i sche Strümpfe, die dir das Blut ins Herz z u rückzwingen sollen. Sie hebt alle Zähne auf, die dir ausfa l len.
Nur um das festzuhalten: Sie liebt dich immer noch. Wenn das nicht so wäre, würde sie sich nicht die Mühe machen, dich zu qu ä len.
Du Mistkerl. Kriegst du das mit?
2. Juli
Okay, okay. Scheiße.
Nur um das festzuhalten: Misty ist auch nicht unschuldig an diesem Durcheinander. Die arme kleine Misty M a rie Kleinman. Nach der Scheidung der Eltern ein Schlüsselkind, fast immer a l lein zu Haus.
Alle im College, alle ihre Freundinnen im Kunstlei s tungskurs haben ihr gesagt: Tu's nicht.
Nein, haben sie gesagt. Nicht Peter Wilmot. Nicht »Peter den Rammler«.
Die Kunstschule des Ostens, die Meadows-Kunstakademie , die Wilson-Kunsthochschule - Gerüchten zufolge war Peter Wilmot überall rausgeflogen.
Du bist da überall rausgeflogen.
Peter war auf jeder Kunstschule in elf Bundesstaaten angeme l det und erschien zu keiner einzigen Unterricht s stunde. Er hat keine Sekunde in seinem Atelier verbracht. Die Wilmots mussten ziemlich reich sein, jedenfalls war nach fünf Jahren Studium se i ne Mappe immer noch leer. Seine Vollzeitbeschäftigung war der Flirt mit jungen Frauen. Peter Wilmot hatte la n ges schwarzes Haar und trug immer diese ausgeleierten bräunlich-blauen Zopfmusterpu l lover. An einer Schulter war ständig eine Naht offen, und der Saum hing ihm fast bis auf die Obe r schenkel.
Dicke, dünne, junge oder alte Frauen. Immer trug Peter seinen verlotterten blauen Pullover, den ganzen Tag hing er auf dem Campus rum und flirtete mit allem, was einen Rock anhatte. Zum Gruseln, dieser Peter Wilmot. Mistys Freundinnen zeigten eines Tages mit den Fingern auf ihn, auf seinen Pullover, der an den Ellbogen und unten am Saum in Auflösung begriffen war.
Dein Pullover.
Am Rücken waren Maschen aufgegangen, durch die Löcher war Peters schwarzes T-Shirt zu sehen.
Dein schwarzes T-Shirt.
Sein Schmuck war das einzige, was Peter von einem obdachl o sen, ambulant behandelten Geisteskranken mit eingeschrän k tem Zugang zu Seife unterschied. Oder auch nicht. Sein Schmuck, das waren bloß so bescheuerte alte Broschen und Strassketten. U n förmige Knäuel aus buntem Glas, kratzig von künstlichen Perlen und Strass, die von Peters Pullover baumelten. Riesige Omabr o schen. Jeden Tag eine andere. An manchen Tagen ein Windrad aus falschen Smaragden. Oder eine Schneeflocke aus abgespli t terten Glasdiamanten und -rubinen, deren Drahtgestell von se i nem Schweiß grün angelaufen war.
Von deinem Schweiß.
Schrottschmuck.
Um das festzuhalten: Zum ersten Mal war Peter von Misty auf einer Ausstellung der Erstsemester gesehen worden, als sie mit einigen Freundinnen vor einem Gemälde stand, das ein wucht i ges altes Steinhaus zeigte. Auf einer Seite öffnete sich das Haus zu einem großen verglasten Raum, einem Wintergarten voller Pa l men. Durch die Fenster war ein Klavier zu sehen. Und ein Mann, der in einem Buch las.
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