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Das Letzte Protokoll

Das Letzte Protokoll

Titel: Das Letzte Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Es beginnt in Kniehöhe, kurze dunkle gerade Striche, und zu jedem Strich ein Name und eine Zahl.
    Tabbi, fünf Jahre alt.
    Tabbi, die jetzt zwölf ist und vom Weinen laterale Kanthorhyt i den um die Augen hat.
    Oder: Peter, sieben Jahre alt.
    Das bist du im Alter von sieben Jahren. Der kleine Peter Wilmot.
    Oder da steht: Grace, sechs Jahre, acht Jahre, zwölf Jahre alt. Und so weiter bis Grace, siebzehn Jahre alt. Grace mit ihren d i cken Hängebacken aus submentalem Fett und dem runzligen Ring aus Falten um den Hals.
    Klingt vertraut?
    Klingelt da was bei dir?
    Diese Bleistiftstriche, Hochwassermarken. Die Jahre 1795... 1850... 1979... 2003. Früher waren die Bleistifte dü n ne Stäbchen aus mit Ruß vermischtem Wachs, mit Schnur umwickelt, damit die Hände sauber blieben. Noch früher hat man bloß Kerben und Initialen ins dicke Holz, in den weißen Anstrich der Tür geritzt.
    Einige der Namen da an der Tür kennst du nicht. He r bert und Caroline und Edna, Fremde, die hier gewohnt haben, aufg e wachsen und gegangen sind. Säuglinge, Kinder, Heranwachse n de, Erwachsene. Und dann gestorben. Deine Blutsverwan d ten, deine Familie, aber Fremde. Dein Vermächtnis. Weg, aber nicht richtig weg. Vergessen, aber noch hier, um entdeckt zu werden.
    Deine arme Frau, sie steht da an dieser Tür und sieht sich ein letztes Mal diese Namen und Daten an. Ihr eigener Name ist nicht dabei. Misty Marie von dem weißen Gesindel aus dem S ü den mit ihren entzündeten roten Hä n den und dem dünnen Haar, durch das rosa die Kopfhaut schimmert.
    All diese Tradition und Geschichte, wovon sie dachte, sie könne sich darin geborgen fühlen. Für immer behütet.
    Das ist nicht typisch für sie. Sie ist keine Säuferin. Falls j e mand noch eigens daran erinnert werden muss: Sie hat eine Menge Stress. Einundvierzig Jahre alt, und jetzt ist sie ihren Mann los. Sie hat keinen College-Abschluss. Keine echte Berufserfahrung - außer Kloschrubben . .. Preiselbe e ren für den Weihnachtsbaum der Wilmots auf Schnüre ziehen . .. Sie hat noch ein Kind und eine Schwi e germutter zu ernähren. Es ist Mittag, und ihr bleiben vier Stunden, die Wertsachen im Haus zusammenzupacken. Das Si l berzeug, die Bilder, das Porzellan. Alles, was sie einem Mi e ter nicht anvertra u en können.
    Deine Tochter, Tabitha, kommt die Treppe runter. Zwölf Jahre alt, und sie hat nichts als einen kleinen Koffer und einen mit Gummibändern verschnürten Schuhkarton u n term Arm. Keine ihrer Wintersachen oder Stiefel. Bloß ein halbes Dutzend So m merkleider, ein paar Jeans und ihren Badeanzug. Ein Paar Sand a len. Die Tennisschuhe an den Füßen.
    Deine Frau, sie packt ein altes Schiffsmodell - die Segel steif und vergilbt, die Takelage fein wie Spinnweben - und sagt: »Tabbi, du weißt, dass wir nicht mehr hierher z u rückkommen.«
    Tabitha steht unten an der Haustür, sie zuckt die Ac h seln und sagt: »Omi sagt aber was anderes.«
    Omi, so nennt sie Grace Wilmot. Ihre Großmutter, deine Mu t ter.
    Deine Frau, deine Tochter, deine Mutter. Die drei Frauen in deinem Leben.
    Deine Frau stopft einen Toastständer aus gediegenem Silber in den Kissenbezug und ruft: »Grace!«
    Zu hören ist nur der Staubsauger irgendwo in den Tiefen des Hauses. Im Wohnzimmer, vielleicht auch auf der V e randa.
    Deine Frau schleift den Kissenbezug ins Esszimmer. Sie packt eine Knochenschale aus Kristall und schreit: »Grace, wir mü s sen reden! Auf der Stelle!«
    Der Name »Peter« an der Tür klettert so hoch, wie deine Frau sich erinnern kann, nämlich etwas höher als sie mit den Lippen erreichen kann, wenn sie sich in ihren schwarzen Stöckelsch u hen auf die Zehenspitzen stellt. Da oben steht: »Peter, achtzehn Jahre alt.«
    Die anderen Namen, Weston und Dorothy und Alice, sind ve r blichen. Von Fingerabdrücken verschmiert, aber nicht übermalt. Relikte. Unsterblich. Das Erbe, das sie im Stich lassen wird.
    Deine Frau dreht einen Schlüssel im Schloss eines Schranks, sie wirft den Kopf zurück und schreit: »Grace!«
    »Ist was?«, sagt Tabbi.
    »Dieser verdammte Schlüssel«, sagt Misty. »Der tut's nicht.«
    Und Tabbi sagt: »Lass mich mal.« Sie sagt: »Ganz ruhig, Mama. Das ist der Schlüssel, mit dem die Standuhr aufg e zogen wird.«
    Und irgendwo hat das Lärmen des Staubsaugers aufg e hört.
    Draußen rollt, langsam und still, ein Auto die Straße hinunter, der Fahrer weit nach vorn übers Steuer gebeugt. Die Sonnenbri l le in die Stirn geschoben, dreht er auf der Suche nach

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