Das Letzte Protokoll
einem Parkplatz den Kopf hin und her. An die Seite seines Autos steht g e schrieben: »Silber International - Jenseits der Grenzen deiner selbst.«
Begleitet von Dancefloor-Musik, die sich aus tiefem Wummern und dem Wort »ruck« zusammensetzt, wehen Papierse r vietten und Pappbecher vom Strand her über die Straße.
Neben der Haustür steht Grace Wilmot, die nach Zitronenöl und Bohnerwachs riecht. Ihr glatt gestrichener grauer Haa r schopf e n det kurz unter der Höhe, die sie mit fünfzehn Jahren erreicht hatte. Beweis, dass sie schrumpft. Du könntest einen Bleistift nehmen und einen Strich machen. Du könntest schre i ben: »Grace, zweiundsiebzig Ja h re alt.«
Deine arme, verbitterte Frau betrachtet den Holzkasten in Grace' Händen. Helles Holz unter vergilbtem Firnis, Eckenve r stärkungen und Scharniere aus fast ganz schwarz angelauf e nem Messing. Der Kasten hat Beine, die man zur Seite hochklappen kann, sodass man ihn als Sta f felei verwenden kann.
Grace hält ihr den Kasten hin, hält ihn in ihren dicken bläul i chen Händen und sagt: »Die wirst du brauchen.« Sie schüttelt den Kasten. Die steifen Pinsel und alten Tuben mit vertrockn e ten Farben und zerbrochenen Pastellstiften rappeln. »Um mit dem Malen a n zufangen«, sagt Grace. »Wenn es so weit ist.«
Und deine Frau, die keine Zeit hat, jetzt einen Anfall zu kri e gen, sie sagt bloß: »Lass das.«
Peter Wilmot, deine Mutter ist absolut zu nichts zu g e brauchen.
Grace lächelt und macht große Augen. Sie hebt den Kasten h ö her und sagt: »Ist das nicht dein Traum?« Durch Betätigung ihres Corrugator-Muskels hebt sie die Auge n brauen und sagt: »Hast du nicht immer malen wollen, seit du ein kleines Mädchen g e wesen bist?«
Der Traum jedes Mädchens auf der Kunstakademie. Wo man a l les über Wachsmalstifte und Anatomie und Falten lernt.
Warum Grace Wilmot überhaupt sauber macht, weiß der Himmel. Jetzt haben sie nur eins zu tun: packen. Dieses Haus: dein Haus: das Silberbesteck, die Gabeln und Löffel groß wie Gartenwerkzeug. Über dem Kamin im Esszimmer hängt ein Ö l gemälde, das irgendeinen toten Wilmot darstellt. Im Keller b e findet sich ein schimmerndes, giftiges Museum: versteinerte Marmeladen und Gelees, antiker selbst gemachter Wein, Foss i lien frühamerikanischer Bi r nen in Bernsteinsirup. Die klebrigen Reste von Reichtum und Mußestunden.
Von all den unbezahlbaren Dingen, die wir zurückla s sen, retten wir nur diese Artefakte. Diese Erinnerungszeichen. Nutzlose Souvenirs. Nichts, was man versteigern könnte. Die Narben, die das Glück hinterlassen hat.
Statt irgendwelche Dinge von Wert einzupacken, etwas, was sie verkaufen könnten, schleppt Grace diesen alten Farbenkasten an. Tabbi hat ihren Schuhkarton mit Schrottschmuck, Mod e schmuck, Broschen und Ringen und Hal s ketten. Am Boden des Schuhka r tons kullert eine Schicht loser Strasssteine und Perlen herum. Ein Karton mit spitzen rostigen Nadeln und Glassche r ben. Tabbi steht neben Grace. Hinter ihr, genau in Höhe von Tabbis Kopf, steht an der Tür: »Tabbi, zwölf Jahre alt«, daneben mit Filzstift in Neo n pink die aktuelle Jahreszahl.
Das sind die Namen der Leute, denen dieser Schrot t schmuck, Tabbis Schmuck, einmal gehört hat.
Grace hat nur ihr Tagebuch eingepackt. Ihr in rotes Leder g e bundenes Tagebuch und ein paar leichte Sommerkleider, haup t sächlich handgestrickte Pullover in Pastel l farben und Faltenröcke aus Seide. Das Tagebuch, das rote Leder voller Risse, ist mit e i nem kleinen Messingschloss verschließbar. Vorne drauf steht in Goldbuchstaben: »T a gebuch.«
Grace Wilmot, sie nervt deine Frau andauernd, dass sie ein T a gebuch anfangen soll.
Grace sagt: Fang wieder an zu malen.
Grace sagt: Geh. Du musst ihn öfter im Krankenhaus b e suchen.
Grace sagt: Du musst den Touristen zulächeln.
Peter, dein armes, missmutiges Ungeheuer von einer Frau sieht deine Mutter und deine Tochter an und sagt: »Vier Uhr. Dann kommt Mr. Delaporte die Schlüssel abh o len.«
Das sei nun nicht mehr das Haus von ihnen. Deine Frau sagt: »Wenn der große Zeiger auf der Zwölf und der kle i ne Zeiger auf der Vier steht, wenn da nicht alles gepackt oder wegg e schlossen ist, seht ihr die Sachen nie wieder.«
Misty Marie, in ihrem Glas sind noch mindestens zwei Schluck übrig. Und wie es da auf dem Esszimmertisch steht, sieht es aus wie die Antwort. Es sieht aus wie Glück und Frieden und Trost. Wie Waytansea Island früher ei n mal ausgesehen
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