Das letzte Revier
zufällig erscheinen, dass Chandonne eine Stunde nach meiner letzten Runde mit ihm einen Verteidiger hat«, fügt sie hinzu. »Ich vermute, dass er bereits wusste, wer es sein wird, und ihn womöglich schon vor der Befragung angeheuert hatte. Aber Chandonne und der Drecksack, mit dem er sich zusammengetan hat, glauben wohl, dass dieses Video« - sie klopft auf ihre Aktentasche - »uns schaden und ihm helfen wird.«
»Weil die Geschworenen ihm entweder glauben oder ihn für paranoid und verrückt halten werden«, fasse ich zusammen. Sie nickt. »So ist es. Wenn alles andere schief läuft, plädieren sie auf unzurechnungsfähig. Und wir wollen doch nicht, dass Mister Chandonne in Kirby landet, oder?«
Kirby ist eine berüchtigte forensische Psychiatrie in New York. Carrie Grethen war dort untergebracht, bevor sie flüchtete und Benton ermordete. Berger hat einen weiteren schmerzhaften Teil meiner Geschichte berührt. »Sie wissen also von Carrie Grethen«, sage ich niedergeschlagen, als wir aus dem Besprechungszimmer gehen, in dem ich mich nie wieder so wie früher fühlen werde. Es wurde ebenfalls zu einem Tatort. Meine gesamte Welt wird es. »Ich habe über Sie recherchiert«, sagt Berger, fast als wollte sie sich entschuldigen. »Und Sie haben Recht. Ich weiß, wer Chandonne verteidigen wird, und es ist keine gute Neuigkeit. Im Gegenteil, es ist verdammt schrecklich.« Sie zieht ihren Nerzmantel an, als wir auf den Flur treten. »Sind Sie jemals Marinos Sohn begegnet?«
Ich bleibe wie vor den Kopf gestoßen stehen und sehe sie an. »Ich kenne niemanden, der ihm je begegnet ist.«
»Kommen Sie. Sie müssen noch auf eine Party. Ich erkläre e s Ihnen im Hinausgehen.« Berger nimmt ihre Sachen und geht lautlos über den Teppichboden. »Rocco Marino, liebevoll >Rocky< genannt, ist ein außergewöhnlich schäbiger Strafverteidiger mit einer Vorliebe für die Mafia und andere, die ihn gut dafür bezahlen, dass er sie mit allen Mitteln rauspaukt. Er prahlt gern. Er liebt Publizität.« Sie blickt kurz zu mir. »Aber am meisten liebt er es, anderen wehzutun. Das ist sein persönlicher Machttrip.« Ich schalte das Licht im Flur aus, und vor der ersten Stahltür stehen wir kurz im Dunkeln.
»Vor ein paar Jahren - angeblich während des Jurastudiums«, fährt sie fort, »hat Rocky seinen Nachnamen in Caggiano geändert. Die endgültige Zurückweisung seines Vaters, den er vermutlich verachtet.«
Ich zögere, blicke sie im Schatten an. Ich will nicht, dass sie den Ausdruck auf meinem Gesicht sieht, merkt, wie vollkommen erledigt ich mich fühle. Ich weiß seit jeher, dass Marino seinen Sohn hasst. Den Grund konnte ich nur vermuten. Ich dache, er ist vielleicht schwul oder drogenabhängig oder einfach ein Verlierer. Jedenfalls war klar, dass Rocky für seinen Vater ein absolutes Anathema ist, und jetzt weiß ich, warum. Die bittere Ironie macht mich betroffen, die Schande. O mein Gott. »Hat Rocky selbst ernannter Caggiano von dem Fall gehört und sich gemeldet?«, frage ich.
»Könnte sein. Könnte aber auch sein, dass die Verbindungen der Familie Chandonne zum organisierten Verbrechen ihn zu ihrem Sohn führten, vielleicht hat er aber auch schon länger Kontakte zu ihnen. Oder eine Kombination aus allem -persönliche Gründe und Rockys Verbindungen. Aber es schmeckt mir ein bisschen nach einem gemeinsamen Auftritt von Vater und Sohn im Colosseum. Vatermord vor den Augen der Welt, wenn auch indirekt. Marino wird nicht notwendigerweise bei Chandonnes Prozess in New York aussagen, aber es könnte sein, hängt davon ab, wie sich alles entwickelt.«
Ich weiß, wie es sich entwickeln wird. Ich weiß es ganz genau. Berger kam nach Richmond in der Absicht, die hiesigen Fälle in den New Yorker Fall hineinzuziehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn es ihr nicht auch noch gelänge, die Pariser Fälle mit unterzubringen.
»Aber dessen ungeachtet«, sagt sie, »Marino wird Chandonne immer als seinen Fall betrachten. Polizisten wie er lassen nicht locker. Und Rocky als Chandonnes Verteidiger bringt mich in eine unselige Position. Würde der Fall in Richmond verhandelt, würde ich ex parte zum Richter marschieren und auf den nicht zu übersehenden Interessenkonflikt hinweisen. Der Richter würde mich wahrscheinlich rausschmeißen und mich rügen. Aber zumindest würde ich Seine Ehren dazu bringen, dass jemand anders aus dem Verteidigerteam den Vater ins Kreuzverhör nimmt.« Ich drücke auf einen Knopf, und weitere
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