Das letzte Revier
wissen?«
»Einiges.«
»Warum nur habe ich das Gefühl, dass ich diejenige bin, die angeklagt werden soll, Ms. Berger?«
»Ich weiß es nicht. Warum fühlen Sie sich denn so?«
»Ich versuche, das alles nicht persönlich zu nehmen. Aber es fällt mir von Minute zu Minute schwerer.«
Berger verzieht keine Miene. Ihre Augen sind wie Flint, ihr Ton wird härter. »Es wird sehr persönlich werden. Ich kann Ihnen nur empfehlen, es nicht so aufzufassen. Sie wissen, wie es ist. Jedes Verbrechen bringt Kollateralschäden mit sich. Jean-Baptiste Chandonne hat Ihnen nicht einen Schlag versetzt, als er in Ihr Haus einbrach. Jetzt fängt er an, Sie zu verletzen. Er hat Sie bereits verletzt. Er wird Sie weiterhin verletzen. Obwohl er eingesperrt ist, wird er Ihnen tagtäglich Schläge zufügen. Er hat einen grausamen, tödlichen Prozess in Gang gesetzt, die Verstümmelung der Kay Scarpetta. Es hat schon begonnen. Das ist die Wahrheit, und Sie wissen es.«
Ich starre sie schweigend an. Mein Mund ist trocken. Mein Herz scheint aus dem Rhythmus geraten zu sein. »Es ist nicht fair, nicht wahr?«, sagt sie in dem scharfen Tonfall einer Staatsanwältin, die die Menschen ebenso zu sezieren weiß wi e ich. »Aber ich bin sicher, Ihren Patienten würde es nicht gefallen, nackt auf Ihrem Tisch zu liegen, unter Ihrem Messer, sich von Ihnen aufschneiden und ihre Körperöffnungen untersuchen zu lassen, wenn sie davon wüssten. Ja, es gibt eine Menge über Ihr Leben, das ich nicht weiß. Und ja, Sie werden meine Fragen nicht mögen. Aber Sie werden kooperieren, wenn es stimmt, was ich über Sie gehört habe. Und ja, verdammt noch mal, ich brauche Ihre Hilfe unbedingt, oder wir können diesen Fall vergessen.«
»Weil Sie versuchen werden, die anderen Morde mit einzubeziehen, nicht wahr?«, sage ich.
Sie zögert. Ihr Blick verweilt auf mir, und kurz leuchtet etwas darin auf, als ob das, was ich gerade gesagt habe, sie glücklich macht oder ihr neuen Respekt einflößt. Ebenso schnell schließt sie mich wieder aus und sagt: »Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.« Ich glaube ihr nicht. Ich bin die einzige lebende Zeugin. Die einzige. Sie hat vor, mich mit hineinzuziehen - sie wird Chandonne aller Verbrechen anklagen, deren er sich je schuldig gemacht hat, alles exemplarisch ausgestellt im Schaukasten jenes Mordes, den er vor zwei Jahren an einer armen Frau in Manhattan begangen hat. Chandonne ist schlau. Aber er könnte einen verhängnisvollen Fehler gemacht haben. Während der Befragung gab er Berger die zwei Waffen an die Hand, die sie für diesen Schachzug braucht: Identität und Intention. Ich kann Chandonne identifizieren. Und ich weiß verdammt genau, was seine Intention war, als er sich den Weg in mein Haus erzwang. Ich bin die einzige lebende Person, die seine Lügen kontern kann.
»Und deswegen hämmern wir jetzt auf meine Glaubwürdigkeit ein.« Das geschmacklose Wortspiel ist Absicht. Sie schlägt genau so nach mir wie Chandonne, aber aus einem völlig anderen Grund. Sie will mich nicht zu Grunde richten. Sie will sichergehen, dass ich nicht zu Grunde gerichtet werde.
»Warum haben Sie mit Jay Talley geschlafen?«, fängt sie von neuem an.
»Weil er gerade da war, verdammt noch mal«, sage ich. Sie bricht in schallendes Gelächter aus, ein tiefes, kehliges Lachen, das sie auf dem Stuhl zurückwirft.
Es war nicht meine Absicht, witzig zu sein. Wenn überhaupt, dann bin ich angewidert. »Das ist die banale Wahrheit, Ms. Berger«, füge ich hinzu.
»Bitte, nennen Sie mich Jaime.« Sie seufzt.
»Ich kenne nicht immer alle Antworten, auch nicht auf Fragen, wo ich sie wissen sollte. Zum Beispiel, warum ich mit Jay ins Bett ging. Aber ich schäme mich dafür. Bis vor ein paar Minuten fühlte ich mich deswegen schuldig, hatte Angst, ihn benutzt, ihm wehgetan zu haben. Aber zumindest habe ich es nicht aller Welt erzählt.«
Darauf erwidert sie nichts.
»Ich hätte wissen müssen, dass er noch ein Junge ist«, fahre ich fort. Empörung macht sich in mir breit. »Keinen Deut besser als diese Teenager, die neulich meine Nichte im Einkaufszentrum angafften. Wandelnde Hormone. Also hat Jay damit angegeben, es Gott und der Welt erzählt, möchte ich wetten, unter anderem Ihnen. Und ich möchte hinzufügen...« Ich halte inne. Schlucke. Wut sitzt mir wie ein Kloß in der Kehle. »Ich möchte hinzufügen, dass einige Details Sie nichts angehen und Sie auch nie etwas angehen werden. Und ich möchte an Ihren professionellen Anstand
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