Das letzte Revier
James City County fertig bin«, sage ich zu Berger. »So etwa gegen zwei Uhr nachmittags.«
»Ich hole Sie ab«, sagt sie.
17
Es ist fast zehn Uhr, als ich von der Neunten Straße auf den Capitol Square abbiege, an der beleuchteten Reiterstatue von George Washington vorbei und zum südlichen Portal des Gebäudes fahre, das Thomas Jefferson entworfen hat und wo hinter dicken weißen Säulen ein zehn Meter hoher, mit Lichterkerzen und Glaskugeln geschmückter Baum aufragt. Die Party des Gouverneurs war kein offizielles Abendessen, die Gäste konnten kommen und gehen, wann sie wollten. Ich bin erleichtert, dass alle schon wieder gegangen scheinen und kein einziges Auto mehr auf dem Parkplatz für Abgeordnete und Besucher steht.
Das Wohnhaus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert ist blassgelb mit weißem Stuck und Säulen. Die Legende will, dass es von Feuerwehrleuten mit Eimern voll Wasser gerettet wurde, als die Richmonder am Ende des Bürgerkriegs ihre eigene Stadt niederbrannten. In der zurückhaltenden Tradition von Virginia glühen Kerzen und hängen frische Kränze in jedem Fenster, und immergrüne Zweige schmücken schwarze gusseiserne Tore. Ich öffne das Fester, als sich mir ein Polizeibeamter nähert. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er eine Spur argwöhnisch. »Ich möchte zu Gouverneur Mitchell.« Ich war schon mehrmals bei ihm zu Hause, aber noch nie um diese Uhrzeit. Außerdem bin ich noch nie mit einem großen Lincoln- Geländewagen vorgefahren. »Dr. Scarpetta. Ich bin ein bisschen spät dran. Wenn es zu spät ist, kann ich es verstehen. Bitte richten Sie ihm aus, dass es mir Leid tut.«
Die Miene des Polizisten hellt sich auf. »Ich habe Sie in diesem Wagen nicht erkannt. Haben Sie Ihren Mercedes nicht mehr? Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Er telefoniert in seinem Wachhäuschen, während ich auf den Capitol Square blicke, zuerst mit ambivalenten Gefühlen, dann mit Trauer im Herzen. Ich habe diese Stadt verloren. Ich kann nicht mehr zurück. Ich kann Chandonne die Schuld dafür geben, aber wenn ich ehrlich bin, dann steckt noch mehr dahinter. Es ist an der Zeit, etwas wirklich Schwieriges zu tun. Mich zu verändern. Lucy hat mir Mut gegeben und mir gezeigt, was aus mir geworden ist: Ich führe ein verschanztes, statisches, institutionalisiertes Leben. Seit über einem Jahrzehnt leite ich die Gerichtsmedizin von Virginia. Ich werde bald fünfzig. Ich mag meine einzige Schwester nicht. Meine Mutter ist schwierig und kränkelt. Lucy zieht nach New York. Benton ist tot. Ich bin allein.
»Fröhliche Weihnachten, Dr. Scarpetta.« Der Polizist steht direkt neben meinem Fenster und senkt die Stimme. Auf seinem Namensschild steht Renquist. »Ich möchte Ihnen nur sagen, dass mir Leid tut, was passiert ist, aber ich freue mich, dass Sie diesen Mistkerl gekriegt haben. Da haben Sie wirklich schnell reagiert.«
»Danke, Officer Renquist.«
»Nach dem ersten Januar werden Sie mich hier nicht mehr sehen«, fährt er fort. »Ich bin zur Kriminalpolizei versetzt worden.«
»Ich hoffe, das ist eine gute Nachricht.«
»O ja, Ma'am.«
»Sie werden uns fehlen.«
»Vielleicht bearbeiten wir mal einen Fall zusammen.« Hoffentlich nicht. Wenn wir beruflich miteinander zu tun hätten, wäre irgendjemand ums Leben gekommen. Er winkt mich durchs Tor. »Sie können vor dem Haus parken.«
Veränderung. Ja, Veränderung. Plötzlich bin ich davon umgeben. In dreizehn Monaten wird Mitchell nicht mehr Gouverneur sein, und das beunruhigt mich. Ich mag ihn. Un d besonders mag ich seine Frau Edith. In Virginia haben Gouverneure nur eine Amtszeit, und alle vier Jahre wird die Welt auf den Kopf gestellt. Hunderte von Angestellten werden versetzt, gefeuert und neu angeheuert. Telefonnummern ändern sich. Computer werden formatiert. Stellenbeschreibungen stimmen nicht mehr. Akten verschwinden oder werden zerstört. Speisekarten werden erneuert oder dem Reißwolf übergeben. Das einzig Bleibende ist das Personal für das Wohnhaus. Dieselben Häftlinge pflegen den Garten und verrichten kleine Arbeiten am Haus, dieselben Leute kochen und putzen, und wenn sie versetzt werden, hat es zumindest nichts mit Politik zu tun. Aaron zum Beispiel ist Butler, seit ich in Virginia bin. Er ist ein großer, gut aussehender Afroamerikaner, schlank, elegant in einer weißen makellosen Jacke und einer schicken schwarzen Fliege.
»Aaron, wie geht es Ihnen?«, frage ich, als ich die Halle betrete, in der kristallenes Licht funkelt und
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