Das letzte Revier
zu rekonstruieren. »Die Polizei kommt. Sie führen sie in die Garage und stellen fest, dass das Tor ungefähr zwanzig Zentimeter weit aufgestemmt ist.« Offenbar hat Berger den Polizeibericht über den versuchten Einbruch gelesen. »Es schneite, und Sie fanden Fußspuren vor der Tür.« Sie tritt nach draußen, ich folge ihr. »Auf den Fußspuren lag etwas Schnee, aber man sah, dass sie zur Hausseite und weiter auf die Straße führten.« Wir stehen ohne Mäntel auf der Einfahrt in der kalten Luft. Ich starre in den bedeckten Himmel empor, und ein paar kalte Schneeflocken fallen auf mein Gesicht. Es hat wieder angefangen. Der Winter ist zu einem Hämophilen geworden. Er kann nicht aufhören zu bluten. Durch Magnolien und kahle Bäume hindurch scheinen die Lichter der Nachbarhäuser, und ich frage mich, wie es um den Seelenfrieden der Bewohner von Lockgreen bestellt ist. Chandonne hat auch ihr Leben besudelt. Es würde mich nicht überraschen, sollten ein paar Leute fortziehen. »Erinnern Sie sich, wo die Fußspuren waren?«, fragt Berger. Ich zeige es ihr. Ich gehe die Einfahrt entlang zur Seite des Hauses, durch den Garten direkt zur Straße.
»Und welche Richtung hat er dann eingeschlagen?« Berger blickt die dunkle, menschenleere Straße entlang.
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich. »Der Schnee war voller Spuren, und es schneite. Wir haben nicht gesehen, wohin er von hier aus ging. Aber ich bin auch nicht lange hier auf der Straße geblieben. Sie werden die Polizei fragen müssen.« Ich denke an Marino. Ich wünschte, er würde sich beeilen und endlich kommen, und ich denke daran, warum ich ihn angerufen habe. Angst und Verwirrung beschleichen mich erneut. Ich schaue z u den Häusern meiner Nachbarn. Ich habe gelernt, meine Umgebung zu lesen, die erleuchteten Fenster, die Autos in den Einfahrten, die zugestellten Zeitungen, und weiß, wer wann hier ist. Viele der Leute hier sind Rentner und verbringen den Winter in Florida und die heißen Sommermonate irgendwo am Wasser. Mir geht durch den Sinn, dass ich hier nie wirkliche Freunde hatte, sondern nur Bekannte, die mir zuwinken, wenn wir in unseren Autos aneinander vorbeifahren.
Berger geht zurück zur Garage, schlingt die Arme um sich, um sich zu wärmen, ihr Atem kalte weiße Wölkchen. Ich denke an Lucy als Kind, wenn sie aus Miami zu Besuch bei mir war. Kälte kannte sie nur aus Richmond, und sie rollte ein kleines Blatt Papier zusammen, stellte sich auf die Terrasse und tat so, als würde sie rauchen, schnippte imaginäre Asche ab und wusste nicht, dass ich sie durch ein Fenster beobachtete. »Gehen wir noch ein Stück weiter zurück«, sagt Berger. »Zum sechsten Dezember, Montag. Der Tag, als die Leiche im Container im Hafen von Richmond gefunden wurde. Die Leiche, von der wir annehmen, dass es sich dabei um Thomas Chandonne handelt, der vermutlich von seinem Bruder Jean-Baptiste ermordet wurde. Erzählen Sie mir genau, was an diesem Tag passierte.«
»Ich wurde von dem Fund der Leiche in Kenntnis gesetzt«, sage ich.
»Von wem?«
»Von Marino. Zehn Minuten später rief mich mein Stellvertreter Jack Fielding an. Ich sagte ihm, dass ich zum Fundort fahren würde.«
»Aber Sie hätten nicht müssen«, unterbricht sie mich. »Sie sind der Boss. An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Vormittag findet man eine stinkende, abscheulich verwesende Leiche. Sie hätten Fielding oder wen auch immer hinschicken können.«
»Hätte ich.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Alles deutete auf einen komplizierten Fall. Das Schiff kam aus Belgien, und wir mussten an die Möglichkeit denken, dass auch die Leiche aus Belgien stammte, was zu internationalen Verwicklungen führen würde. Ich übernehme in der Regel die schwierigen Fälle, wo mit großer Publicity zu rechnen ist.«
»Weil Sie Publicity mögen?«
»Weil ich sie nicht mag.«
Wir sind wieder in der Garage, und uns beiden ist sehr kalt. Ich schließe das Tor.
»Vielleicht wollten Sie den Fall übernehmen, weil Sie einen sehr aufregenden Morgen hinter sich hatten?« Berger geht zu dem großen Spind aus Zedernholz. »Darf ich?« Ich sage ihr, sie könne machen, was sie wolle, und wundere mich wieder einmal, wie viele Details aus meinem Leben sie zu kennen scheint. Schwarzer Montag. An diesem Morgen besuchte mich Senator Frank Lord, Vorsitzender des Rechtsauschusses und ein guter alter Freund. Er überbrachte mir einen Brief, den Benton geschrieben hatte und von dessen Existenz ich bis dahin
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