Das letzte Revier
nichts gewusst hatte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Benton während eines Urlaubs am Lake Michigan vor ein paar Jahren einen Brief an mich geschrieben und Senator Lord gebeten hatte, ihn mir zu geben, sollte er - Benton - sterben. Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich Bentons Handschrift erkannte. Den Schock werde ich nie vergessen. Ich war zutiefst erschüttert. Endlich überwältigte mich der Schmerz, und das war genau, was Benton beabsichtigt hatte. Er war über seinen Tod hinaus ein brillanter Psychologe. Er wusste genau, wie ich reagieren würde, sollte ihm etwas zustoßen, und er zwang mich, den Zustand arbeitssüchtiger Verleugnung zu sprengen. »Woher wissen Sie von dem Brief?«, frage ich Berger benommen. Sie schaut in den Spind und sieht Sportkleidung, Gummistiefel, dicke Lederhandschuhe, lange Unterhosen, Socken , Tennisschuhe. »Bitte, vertrauen Sie mir«, sagt sie in nahezu sanftem Tonfall. »Beantworten Sie einfach meine Fragen. Ich werde Ihre später beantworten.«
Später ist nicht gut genug. »Warum ist der Brief wichtig?« »Ich bin nicht sicher. Aber fangen wir mit Ihrer geistigen Verfassung an.«
Sie lässt ihre Antwort wirken. Meine geistige Verfassung ist also das Zentrum, in das Rocky Caggiano zielen wird, sollte ich in New York aussagen. Und sie wird im Augenblick anscheinend von allen in Frage gestellt.
»Wenn ich von etwas weiß, dann weiß davon auch der Anwalt der Gegenseite, davon sollten wir ausgehen«, fügt sie hinzu. Ich nicke.
»Aus heiterem Himmel bekommen Sie diesen Brief. Von Benton.« Sie hält inne, und in ihrer Miene spiegelt sich Mitgefühl. »Ich möchte Ihnen sagen...« Sie blickt von mir weg. »Das hätte auch mich am Boden zerstört. Es tut mir Leid, dass Sie so viel haben durchmachen müssen.« Sie sieht mir in die Augen. Ein weiterer Schachzug, damit ich ihr vertraue, eine Bindung mit ihr eingehe? »Benton erinnert Sie ein Jahr nach seinem Tod, dass Sie seinen Verlust wahrscheinlich nicht verarbeitet haben. Dass sie vor dem Schmerz geflüchtet sind.«
»Sie können den Brief nicht gelesen haben.« Ich bin verblüfft und empört. »Er liegt verschlossen in einem Safe. Woher wissen Sie, was darin steht?«
»Sie haben ihn anderen gezeigt«, erklärt sie.
Mit dem letzten bisschen Urteilsvermögen erkenne ich, dass Berger, wenn sie nicht schon mit jedem aus meiner Umgebung, darunter Marino und Lucy, gesprochen hat, es noch tun wird. Es ist ihre Pflicht. Sie wäre dumm und nachlässig, würde sie es nicht tun. »Der sechste Dezember«, nimmt sie den Faden wieder auf. »Er schrieb den Brief am sechsten Dezember 1996 und bat Senator Lord, Ihnen den Brief am sechsten Dezember nac h seinem Tod zu überbringen. Warum war das ein besonderes Datum für Benton?« Ich zögere.
»Denken Sie daran, ein dickes Fell, Kay«, erinnert sie mich. »Ich weiß nicht, warum der sechste Dezember so wichtig für Benton war - er erwähnt nur, dass er weiß, dass Weihnachten immer eine schwere Zeit für mich ist«, antworte ich. »Er wollte, dass ich den Brief kurz vor Weihnachten bekomme.«
»Weihnachten ist eine schwere Zeit für Sie?«
»Ist es das nicht für alle?«
Berger schweigt eine Weile. Dann sagt sie: »Wann begann Ihre intime Beziehung zu ihm?«
»Vor Jahren, im Herbst.«
»Okay. Vor Jahren, im Herbst. Damals begann Ihr sexuelles Verhältnis mit Benton.« Sie spricht, als würde ich der Realität aus dem Weg gehen. »Als er noch verheiratet war. Damals begann Ihre Affäre mit ihm.«
»Das stimmt.«
»Okay. Jetzt, am sechsten Dezember, bekommen Sie diesen Brief von ihm, und am späteren Vormittag fahren Sie zu dem Leichenfundort im Hafen von Richmond. Anschließend kehren Sie nach Hause zurück. Schildern Sie mir, was Sie für gewöhnlich tun, wenn Sie von einem Tatort direkt nach Hause kommen.«
»Die Sachen, die ich im Hafen getragen hatte, befanden sich in zwei übereinander gezogenen Plastiksäcken im Kofferraum meines Wagens«, erkläre ich. »Ein Trainingsanzug und Tennisschuhe.« Ich starre auf den leeren Platz, wo mein Auto stehen sollte. »Der Trainingsanzug kam in die Waschmaschine, die Schuhe in das Spülbecken mit kochend heißem Wasser und Desinfektionsmittel.«Ich zeige ihr die Schuhe. Sie stehen noch immer auf dem Regal, auf das ich sie vor über zwei Wochen zum Trocknen gestellt habe. »Dann?« Berger geht zu r Waschmaschine.
»Dann habe ich mich ganz ausgezogen. Ich habe alles ausgezogen und in die Waschmaschine gesteckt und sie eingeschaltet,
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