Das letzte Revier
und verberge die Empörung, die ich stets empfinde, wenn die Medien Einzelheiten wissen, bevor ich davon erfahre. »Wir haben viele Fälle gemeinsam vertreten«, füge ich hinzu. »Deswegen wundert es mich nicht, wenn er diesen Fall nicht selbst übernehmen möchte.«
»Das denke ich mir. Soweit ich weiß, wurde ein Sonderermittler ernannt. Darauf will ich hinaus. Haben Sie davon gehört?« Er versucht in meinem Gesicht zu lesen.
»Nein.« Ich versuche in seinem Gesicht zu lesen in der Hoffnung, darin etwas zu finden, was eine Breitseite verhindern könnte. »Niemand hat angedeutet, dass Jaime Berger die Anklage vertreten soll, Dr. Scarpetta?« Er starrt mir in die Augen. »Soweit ich weiß, war das einer der Gründe, warum sie nach Richmond gekommen ist. Sie sind mit ihr die Fälle Luong und Bray durchgegangen, aber aus einer sehr verlässlichen Quelle weiß ich, dass das eine abgekartete Sache war. Sie war sozusagen undercover hier. Righter hat es eingefädelt, angeblic h bevor Chandonne bei Ihnen auftauchte. Man hat mir gesagt, dass Berger seit Wochen Bescheid weiß.«
»Angeblich?« Mehr fällt mir nicht ein. Ich bin geschockt.
»Aus Ihrer Reaktion schließe ich, dass Sie nichts davon wussten«, sagt Washington George.
»Sie können mir vermutlich nicht sagen, wer Ihre verlässliche Quelle ist?«, erwidere ich.
»Nein.« Er lächelt kurz und ein bisschen verlegen. »Sie können das Gerücht also nicht bestätigen?«
»Selbstverständlich nicht«, sage ich und versuche, mich zu sammeln.
»Ich werde weiter recherchieren, aber Sie sollen wissen, dass ich Sie mag und dass Sie immer freundlich zu mir waren«, fährt er fort. Ich höre ihm nicht zu. Ich kann nur noch an Berger denken, die Stunden mit mir verbracht hat, in ihrem Wagen, in meinem Haus, in Brays Haus, und die ganze Zeit über hat sie sich in Gedanken Notizen gemacht, die sie in der Anhörung gegen mich verwenden wird. Kein Wunder, dass sie so viel über mein Leben weiß. Sie kennt wahrscheinlich meine Telefonrechnungen, meine Kontoauszüge und andere Unterlagen und hat mit allen gesprochen, die mich kennen. »Washington«, sage ich, »die Mutter eines Verstorbenen wartet auf mich, ich kann nicht länger mit Ihnen reden.« Ich gehe hinaus. Es ist mir gleichgültig, ob er mich für unhöflich hält.
Ich durchquere die Damentoilette und ziehe mir im Umkleideraum Laborkittel und Papierschuhe über. Im Autopsiesaal ist es laut, jeder Tisch ist belegt. Jack Fielding ist mit Blut voll gespritzt. Er hat Mrs. Whites Sohn bereits aufgeschnitten und entnimmt gerade mit einer Spritze Blut aus der Aorta des Jungen. Jack wirft mir einen hektischen, wilden Blick zu, als ich zu seinem Tisch gehe. Die Neuigkeiten des Tages stehen ihm ins Gesicht geschrieben. »Später.« Ich hebe die Hand, bevor er mir eine Frage stellen kann. »Seine Mutte r wartet in meinem Büro.« Ich deute auf die Leiche. »Scheiße«, sagt Fielding. »Scheiße ist alles, was ich zu dieser verdammten Welt noch zu sagen habe.«
»Sie will ihn sehen.« Ich nehme ein Tuch aus einer Tüte und wische das hübsche Gesicht des Jungen ab. Sein Haar ist heufarben, und abgesehen von seinem stark geröteten Gesicht ist seine Haut milchig rosa. Auf seiner Oberlippe sprießt Flaum, und auch die ersten Schamhaare sind zu sehen. Seine Hormone waren gerade am Erwachen, wollten ihn vorbereiten auf ein Leben als Erwachsener, das ihm nicht bestimmt war. Eine schmale, dunkle Furche zieht sich um seinen Hals und, wo das Seil geknotet war, hinauf zu seinem rechten Ohr. Ansonsten weist sein kräftiger, junger Körper keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung auf, keinen Hinweis, warum er nicht hätte leben sollen. Selbstmorde können eine große Herausforderung darstellen. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht hinterlassen die wenigsten Selbstmörder Abschiedsbriefe. Die Lebenden reden nicht immer über ihre Gefühle, und manchmal haben auch ihre Leichen kaum etwas zu sagen. »Verdammt«, murmelt Jack.
»Was wissen wir über ihn?«, frage ich ihn.
»Nur dass er sich ungefähr seit Weihnachten in der Schule merkwürdig verhalten hat.« Jack nimmt einen Wasserschlauch und wäscht die Brusthöhle aus, bis sie schimmert wie das Innere einer Tulpenblüte. »Der Vater ist vor ein paar Jahren an Lungenkrebs gestorben.« Wasser plätschert. »Dieser verdammte Stanfield, Himmel noch mal. Was ist der Kerl eigentlich? Hilfspolizist? Drei verdammte Fälle in vier verdammten Wochen.« Jack spritzt den Block der Organe ab. Sie
Weitere Kostenlose Bücher