Das letzte Revier
Rock , die Stützschuhe einer Krankenschwester und einen dunklen Regenmantel, den sie fest um sich gezogen hat. Sie klammert sich an ihre Handtasche, als ob sie ihr jemand wegnehmen wollte. »Ich warte nur«, sagt sie leise. »Auf wen warten Sie?«
»Ich weiß es nicht«, stammelt sie, und ihre Augen schwimmen in Tränen. Schluchzer steigen in ihr auf, und ihre Nase fängt an zu laufen. »Es ist wegen meinem Jungen. Kann ich ihn sehen? Ich weiß nicht, was Sie hier mit ihm machen.« Ihr Kinn bebt, und sie wischt sich mit dem Handrücken über die Nase. »Ich muss ihn einfach sehen.«
Fielding rief mich an wegen der Fälle von heute, und ich weiß, dass einer von ihnen ein Teenager ist, der sich angeblich erhängt hat. Wie lautete der Name? White? Ich frage sie, und sie nickt. Benny, nennt sie als Vornamen. Ich nehme an, dass sie Mrs. White ist, und erneut nickt sie und erklärt, dass sie und ihr Sohn White als Nachnamen annahmen, als sie vor ein paar Jahren zum zweiten Mal heiratete. Ich bitte sie, mit mir zu kommen - und jetzt weint sie richtig -, wir würden herausfinden, was mit Benny los sei. Was immer Washington George mir zu sagen hat, muss warten. »Ich glaube nicht, dass es warten sollte«, erwidert er. »Na gut, na gut. Kommen Sie mit, und ich spreche mit Ihnen, sobald ich Zeit habe«, sage ich, während ich mit der Plastikkarte die Tür zu meinem Büro öffne. Cleta gibt Falldaten in den Computer ein, und sie wird sofort rot, als sie mich sieht. »Guten Morgen.« Sie versucht, wie immer fröhlich zu sein. Aber sie wirft mir diesen Blick zu, den ich mittlerweile hasse und fürchte. Ich kann mir nur ausmalen, was meine Mitarbeiter heute Morgen miteinander geredet haben, und es entgeht meiner Aufmerksamkeit nicht, dass die Zeitung zusammengefaltet auf Cletas Schreibtisch liegt, halb bedeckt von ihrem Pullover. Cleta hat über die Feiertage zugenommen und dunkle Ringe unter den Augen. Ich bringe allen Unglück.
»Wer kümmert sich um Benny White?«, frage ich sie.
»Ich glaube Dr. Fielding.« Sie sieht zu Mrs. White und steh t von ihrem Stuhl auf. »Kann ich Ihnen den Mantel abnehmen? Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
Ich bitte Cleta, Mrs. White in mein Besprechungszimmer zu bringen, und Washington George soll in der medizinischen Bibliothek warten. Ich gehe zu Rose, meiner Sekretärin, und bin so erleichtert, sie zu sehen, dass ich meine Sorgen für einen Augenblick vergesse, und sie erinnert mich auch nicht daran, indem sie mir den Blick zuwirft - den verstohlenen, neugierigen, verlegenen Blick. Rose ist einfach Rose. Im Gegenteil, Unglücksfälle scheinen Rose noch stärker zu machen. Sie schaut mir in die Augen und schüttelt den Kopf. »Es ist widerlich«, sagt sie. »Das lächerlichste Gewäsch, das ich je in meinem Leben gelesen habe.« Sie nimmt ihre Zeitung in die Hand und schüttelt sie mir ins Gesicht, als wäre ich ein unartiger Hund. »Lassen Sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen, Dr. Scarpetta.« Als ob es so einfach wäre. »Ein grauenhafter Unsinn, dieser verdammte Buford Righter. Er ist zu feige, um es Ihnen ins Gesicht zu sagen, stimmt's? Sie müssen es also so herausfinden?« Wieder schüttelt sie die Zeitung. »Rose, ist Jack in der Leichenhalle?«, frage ich. »O Gott, er hat sich das arme Kind vorgenommen«, wechselt Rose das Thema, und ihre Empörung verwandelt sich in Mitleid. »Himmel. Haben Sie ihn gesehen?«
»Ich bin gerade erst gekommen.«
»Sieht aus wie ein kleiner Chorknabe. Blaue Augen, blondes Haar. Meine Güte. Wenn das mein Kind wäre.«
Ich unterbreche Rose, indem ich den Finger an den Mund lege, da ich Cleta mit der Mutter des Jungen den Flur entlangkommen höre. Ich forme lautlos die Worte »seine Mutter«, und Rose sagt nichts mehr. Sie sieht mich immer noch an. Heute Morgen ist sie nervös und aufgeregt und ganz in Schwarz gekleidet, ihr Haar ist hochgesteckt, und sie erinnert mich an Grant Woods American Gothic. »Ich bin okay«, sage ich leise zu ihr.
»Das glaube ich nicht.« Ihre Augen werden feucht, und sie macht sich nervös mit Papieren zu schaffen.
Der Fall Jean-Baptiste Chandonne zieht alle meine Mitarbeiter in Mitleidenschaft. Alle, die mich kennen und von mir abhängig sind, sind bedrückt und durcheinander. Sie vertrauen mir nicht mehr völlig und haben insge heim Angst, was aus ihrem Leben und ihren Jobs werden wird. Das erinnert mich an meinen schlimmsten Augenblick in der Schule, als ich zwölf Jahre alt war - und wie Lucy frühreif und die
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