Das letzte Revier
jüngste in meiner Klasse. Mein Vater starb während dieses Schuljahrs, am 23. Dezember, und das einzig Gute daran, dass er mit dem Sterben bis kurz vor Weihnachten gewartet hatte, bestand darin, dass die meisten Nachbarn zumindest nicht arbeiten mussten, sondern zu Hause waren und kochten und buken. In guter alter italienischkatholischer Tradition wurde das Leben meines Vaters überschwänglich gefeiert. Mehrere Tage lang war unser Haus erfüllt von Gelächter, Tränen, Essen, Trinken und Liedern.
Als ich im neuen Jahr in die Schule zurückkehrte, wurde ich noch erbarmungsloser in meinen zerebralen Eroberungen und Nachforschungen. Dass ich nur die besten Noten bekam, reichte nicht mehr. Ich verlangte verzweifelt nach Aufmerksamkeit, wollte unbedingt gefallen und bat die Nonnen, mir besondere Aufgaben zuzuteilen, gleichgültig, welche. So verbrachte ich die Nachmittage in der Schule, säuberte Schwämme von Kreide, indem ich sie auf der Schultreppe ausklopfte, half den Lehrerinnen bei der Benotung von Aufgaben, gestaltete schwarze Bretter. Ich konnte sehr gut mit Schere und Heftmaschine umgehen. Wenn Buchstaben oder Zahlen ausgeschnitten und zu Worten, Sätzen oder Kalendern zusammengesetzt werden mussten, wandten sich die Nonnen an mich. Martha war ein Mädchen aus meiner Klasse, das vor mir saß und nie mit mir sprach. Sie blickte sich häufig nach mir um, kalt, aber neugierig, versuchte immer auf die rot eingekreiste Note auf meiner Haus - oder Schulaufgabe zu spähen in de r Hoffnung, besser abgeschnitten zu haben als ich. Eines Tages nach einer besonders schwierigen Algebra-Aufgabe verhielt sich Schwester Teresa mir gegenüber ungewöhnlich kühl. Sie wartete, bis ich auf der Treppe saß und Schwämme ausklopfte. Kreidewolken schwebten durch das winterlich tropische Licht, und ich sah auf. Da stand sie in ihrer Tracht, ragte vor mir auf wie ein rie siger, stirnrunzelnder, antarktischer Vogel mit einem Kruzifix um den Hals. Jemand hatte behauptet, ich hätte bei der Algebra-Aufgabe geschwindelt, und obwohl Schwester Teresa die Urheberin der Lüge nicht verriet, zweifelte ich nicht daran, dass es Martha gewesen war. Die einzige Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen, war, die Aufgabe noch einmal fehlerfrei zu schreiben.
Danach ließ Schwester Teresa mich nicht mehr aus den Augen. Ich wagte es nicht, den Blick von meinem Tisch zu heben. Mehrere Tage vergingen. Ich leerte Papierkörbe aus. Schwester Teresa war mit mir im Klassenzimmer und mahnte mich, beständig zu Gott zu beten, damit er mich von Sünden rein hielt. Ich müsse unserem himmlischen Vater danken für meine großen Talente und ihn bitten, dass ich ehrlich bleiben würde, weil ich so schlau sei, dass ich mit vielem ungestraft davonkomme. Gott wisse alles, sagte Schwester Teresa. Ich könne Gott nicht hintergehen. Ich protestierte, dass ich ehrlich sei und Gott nicht hintergehen wolle und sie solle doch Gott selbst fragen. Ich begann zu weinen. »Ich bin keine Betrügerin«, schluchzte ich. »Ich will zu meinem Papa.« Als ich im ersten Semester Medizin an der John Hopkins studierte, schrieb ich Schwester Teresa einen Brief und schilderte ihr den bedrückenden, unfairen Vorfall. Ich behauptete noch einmal meine Unschuld, weil es mich noch immer traf und wütend machte, fälschlich beschuldigt worden zu sein und dass die Nonnen mich nicht verteidigt und mir von da an misstraut hatten. Als ich jetzt, über zwanzig Jahre später, in Roses Büro stehe, denke ich daran, was Jaime Berger sagte, als wir uns zu m ersten Mal sahen. Sie meinte, dass der Schmerz erst angefangen habe. Natürlich hatte sie Recht. »Bevor heute alle gehen«, sage ich zu meiner Sekretärin, »möchte ich mit ihnen sprechen. Bitte sagen Sie das allen, Rose. Wir werden irgendwie Zeit finden. Ich sehe jetzt nach Benny White. Bitte kümmern Sie sich um seine Mutter. Ich werde sobald wie möglich mit ihr sprechen.«
Ich gehe den Flur entlang, am Aufenthaltsraum vorbei und in die medizinische Bibliothek zu Washington George. »Ich habe nur kurz Zeit«, sage ich etwas zerstreut zu ihm.
Er betrachtet die Bücher in einem Regal, seinen Notizblock vor sich wie eine Waffe, zu der er jederzeit greifen kann. »Ich habe ein Gerücht gehört«, sagt er. »Wenn Sie wissen, ob es zutrifft, könnten Sie es mir bestätigen. Wenn Sie es nicht wissen, sollten Sie es vielleicht herausfinden. Buford Righter wird in Ihrer Anhörung nicht die Anklage vertreten.«
»Davon weiß ich nichts«, antworte ich
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