Das letzte Revier
Gegenüber der Couch befindet sich eine Wand aus Glas mit einem Vorhang davor. Auf der anderen Seite ist ein begehbarer Kühlraum.
»Setzen Sie sich doch«, sage ich zu Mrs. White und berühre sie an der Schulter.
Sie ist angespannt und ängstlich, ihre Augen fixieren den geschlossenen blauen Vorhang. Sie setzt sich auf die Couchkante, die Hände fest im Schoß gefaltet. Ich ziehe den Vorhang auf, und vor uns liegt der mit einem blauen Tuch bedeckte Benny. Das Tuch reicht bis unter das Kinn, um die Einkerbung des Seils zu verbergen, das nasse Haar ist zurückgekämmt, die Augen sind geschlossen. Seine Mutter ist auf der Couchkante erstarrt. Sie scheint nicht mehr zu atmen. Sie starrt ausdruckslos, verständnislos. Sie runzelt die Stirn.
»Warum ist sein Gesicht so rot?«, fragt sie nahezu vorwurfsvoll.
»Das Seil hat verhindert, dass das Blut zum Herzen zurückfloss«, erkläre ich. »Deswegen ist sein Gesicht mit Blut überfüllt.« Sie steht auf und geht näher zum Fenster. »Oh, mein Baby«, flüstert sie. »Mein lieber Junge. Du bist jetzt im Himmel. Bei Jesus im Paradies. Sein Haar ist nass, als wäre er gerade getauft worden. Sie müssen ihn gewaschen haben. Ich muss wissen, dass er nicht gelitten hat.« Ich kann es ihr nicht bestätigen. Als er die Schlinge um seinen Hals zusammenzog, muss der rauschende Druck in seinem Kopf schrecklich gewesen sein. Der Prozess, der sein Leben beenden würde, war eingeleitet, und er war lange genug bei Bewusstsein, um den Tod kommen zu spüren. Ja, er hat gelitten. »Nicht lange«, sage ich. »Er hat nicht lange gelitten, Mrs. White.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Ich ziehe den Vorhang zu und führe sie hinaus.
»Was werden Sie jetzt mit ihm machen?«, fragt sie, als sie mir steif folgt.
»Wir werden ihn uns ansehen und ein paar Tests machen, um festzustellen, ob wir noch mehr wissen müssen.« Sie nickt.
»Möchten Sie sich noch einen Augenblick setzen. Kann ich Ihnen etwas bringen?«
»Nein, nein. Ich will gehen.«
»Es tut mir sehr Leid wegen Ihrem Sohn, Mrs. White. Wirklich. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie einfach an. Wenn ich nicht da bin, wird Ihnen jemand anders helfen. Es wird schwer sein, und Sie werden viel durchmachen. Wenn wir helfen können, rufen Sie an.« Sie bleibt im Flur stehen, ergreift meine Hand und blickt mir in die Augen. »Sind Sie sicher, dass ihm das niemand angetan hat? Wie können Sie wissen, dass er es selbst war?«
»Im Augenblick gibt es keine Hinweise, dass es jemand anders war«, versichere ich ihr. »Aber wir gehen jede r Möglichkeit nach. Wir sind noch nicht fertig. Solche Untersuchungen dauern manchmal Wochen.«
»Sie werden ihn doch nicht wochenlang hier behalten!«
»Nein, Sie können ihn in ein paar Stunden abholen lassen. Sagen Sie dem Bestattungsunternehmen Bescheid.« Wir stehen am Empfang, und ich begleite sie durch eine Glastür in die Lobby. Sie zögert, als wüsste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte. »Danke«, sagt sie. »Sie waren sehr freundlich.« Man dankt mir nicht oft. Gedankenschwer kehre ich in mein Büro zurück und stoße fast mit Marino zusammen, der gleich hinter der Tür auf mich wartet, Papiere in der Hand, mit vor Aufregung rotem Gesicht. »Du wirst es nicht glauben«, sagt er.
»Inzwischen bin ich so weit, dass ich geneigt bin, alles zu glauben«, erwidere ich grimmig, als ich mich seufzend auf den Lederstuhl hinter meinem voll beladenen Schreibtisch fallen lasse. Vermutlich wird mir Marino mitteilen, dass Jaime Berger die Staatsanwaltschaft gegen mich vertreten wird. »Wenn es um Berger geht, dann weiß ich bereits Bescheid«, sage ich. »Ein AP-Reporter hat mir erzählt, dass sie zur Anklagevertreterin ernannt wurde. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich weiß nicht einmal, ob es mir wichtig ist.«
Marino blickt verwirrt drein. »Wirklich? Wie ist das möglich? Hat sie eine Zulassung für Virginia?«
»Braucht sie nicht«, sage ich. »Sie kann unter pro hac vice auftreten.« Der Ausdruck bedeutet für diese besondere Gelegenheit, und ich erkläre ihm, dass ein Gericht auf Bitten einer Jury einem Anwalt aus einem anderen Bundesstaat die Erlaubnis erteilen kann, einen Fall zu vertreten, auch wenn diese Person in Virginia nicht als Anwalt zugelassen ist.
»Und was ist mit Righter?«, fragt Marino. »Was macht er?«
»Jemand von der hiesigen Staatsanwaltschaft wird mit ihr zusammenarbeiten. Ich schätze, dass Righter ihr Partner sein und ihr die
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