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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nicht.«
    »Ich halte Ausschau«, sagt sie.
    Die Antennen werden um einiges unter dem Horizont sein, was heißt, dass sie keine Gefahr darstellen, wenn wir uns ihnen nähern. Aber ich habe eine Phobie vor jeder Art von Hindernissen, und in dieser Welt der beständigen Kommunikation werden es immer mehr. Di e Flugverkehrskontrolle von Richmond meldet, dass wir aus dem von ihnen mit Radar überwachten Gebiet fliegen und auf Sichtflug gehen können. Ich wechsle die Frequenz im Transponder auf zwölfhundert, als ich die zwei Antennen mehrere Meilen vor uns soeben erkennen kann - zwei gespenstische gerade Bleistiftlinien im dichten grauen Dunst. Ich mache Lucy darauf aufmerksam.
    »Hab sie gesehen«, erwidert Lucy. »Ich hasse diese Dinger.« Sie fliegt eine Rechtskurve, um den Antennen in nördlicher Richtung auszuweichen. Sie hat nicht vor, persönliche Bekanntschaft mit ihnen zu schließen, denn die schweren Stahlkabel sind wie Heckenschützen. Sie erwischen zuerst einen selbst.
    »Wird der Gouverneur sauer sein, wenn er rausfindet, was du tust?«, fragt mich Lucy über Kopfhörer.
    »Er hat mich angewiesen, Urlaub zu machen«, sage ich. »Ich bin beurlaubt.«
    »Du kommst dann also mit mir nach New York«, sagt sie. »Du kannst bei mir wohnen. Ich bin so froh, dass du deinen Job aufgibst und dich selbstständig machen willst. Vielleicht bleibst du ja in New York und arbeitest mit Teun und mir zusammen?«
    Ich will sie nicht verletzen. Ich sage ihr nicht, dass ich nicht froh bin. Ich möchte hier sein. Ich möchte zurück in mein Haus und meinen Job machen wie immer, und das wird nie wieder möglich sein. Ich komme mir vor wie ein Flüchtling, sage ich zu meiner Nichte, die sich voll und ganz aufs Fliegen konzentriert, ihre Augen immer auf dem, was sie gerade tut. Mit jemandem reden, der gerade einen Helikopter fliegt, ist wie Telefonieren. Die Person sieht einen nicht wirklich. Es gibt keine Gesten oder Berührungen. Die Sonne wird heller, der Nebel lichtet sich, je weiter wir nach Osten fliegen. Unter uns schimmern Bäche wie die Eingeweide der Erde, und der James River glitzert weiß wie Schnee. Wir werden langsamer und fliegen tiefer, über di e Susan Constant, die Godspeed und die Discovery hinweg, originalgetreue Nachbildungen der Schiffe, die die ersten einhundertundvier Männer und Jungen 1607 nach Virginia brachten. In der Ferne sehe ich auf Jamestown Island den Obelisken zwischen Bäumen aufragen, wo Archäologen gerade die ersten englischen Siedlungen Amerikas ausgraben. Eine Fähre bringt gemächlich Autos über das Wasser nach Surry. »Ich sehe einen grünen Silo bei neun Uhr«, sagt Lucy. »Ist er das?« Ich folge ihrem Blick zu einer Farm direkt am Bach. Auf der anderen Seite des schmalen, schlammigen Wasserlaufs ragen Dächer und alte Wohnwagen zwischen Kiefern hervor und werden zum Fort James Motel and Camp Ground. Lucy fliegt in hundertfünfundsechzig Meter Höhe über die Farm und vergewissert sich, dass uns keine Gefahren wie zum Beispiel Stromleitungen drohen. Sie nimmt das Gebiet in Augenschein und wirkt zufrieden, als sie den Steuerknüppel senkt und die Geschwindigkeit auf sechzig Knoten drosselt. Wir beginnen den Landeanflug auf eine Lichtung zwischen dem Wald und dem kleinen Klinkerhaus, in dem Benny White seine zwölf kurzen Jahre verbrachte. Totes Gras wird platt gedrückt, als Lucy vorsichtig aufsetzt, den Boden abtastet, um sicherzugehen, dass er eben ist. Mrs. White kommt aus dem Haus. Sie starrt uns an, hält zum Schutz vor der Sonne eine Hand über die Augen, und dann gesellt sich ein großer Mann im Anzug zu ihr. Sie bleiben während der zwei Minuten, die der Helikopter zum Abschalten braucht, auf der Veranda stehen. Als wir aussteigen und zu ihnen rübergehen, wird mir klar, dass Bennys Eltern sich für uns herausgeputzt haben. Sie sehen aus, als kämen sie gerade aus der Kirche. »Hätte nie gedacht, dass so eine Maschine mal auf meiner Farm landen würde.« Mr. White schaut zum Helikopter, seine Miene ernst.
    »Kommen Sie rein«, sagt Mrs. White. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee oder etwas anderes?«
    Wir reden über den Flug, machen Smalltalk, ängstliche Sorg e ist in der Luft. Die Whites wissen, dass ich nur hier bin, weil ich ein paar ominöse Vermutungen haben muss, was die Todesumstände ihres Sohnes betrifft. Sie halten Lucy für meine Mitarbeiterin, denn sie sprechen immer uns beide an. Das Haus ist ordentlich und hübsch eingerichtet mit großen, gemütlichen

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