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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Ich weiß nicht, wie die Antwort lauten wird. »Nein«, widerspricht sie. »Denk nicht darüber nach. Fühle es.« Ich denke nach.
    »Nein. Fühle es, Kay. Fühle es.« Sie legt die Hand aufs Herz. »Ich muss nachdenken. Das, was ich im Leben erreicht habe, habe ich durch Nachdenken erreicht«, erwidere ich defensiv und bin urplötzlich wieder da, zurückgekehrt aus dem ungewöhnlichen Raum, in dem ich mich gerade aufgehalten habe. Ich bin wieder in ihrem Wohnzimmer und weiß um alles, was mir passiert ist. »Das, was du im Leben erreicht hast, hast du durch Wissen erreicht«, sagt sie. »Und Wissen ist Wahrnehmen. In Denkprozessen verarbeiten wir unsere Wahrnehmungen, und häufig ist Denken ein Versteck für die Wahrheit. Warum wolltest du deine eher poetische Seite vor Benton verheimlichen?«
    »Weil ich diese Seite nicht wirklich achte. Es ist eine nutzlose Seite. Zum Beispiel bringt es überhaupt nichts, vor Gericht das Gehirn mit einem Pilz zu vergleichen«, antworte ich. »Ah.« Anna nickt wieder. »Vor Gericht benutzt du ständig Analogien. Deswegen bist du auch eine so gute Zeugin. Du beschwörst Bilder, die jeder normale Mensch versteht. Warum hast du Benton nicht die Assoziationen geschildert, die du mir eben beschrieben hast?«
    Ich bringe meinen gebrochenen Arm in eine neue Position, stütze den Gips in meinem Schoß ab. Ich wende mich von Anna ab, blicke hinaus auf den Fluss und empfinde mich plötzlich als so ausweichend wie Buford Righter. Dutzende von Kanadagänsen haben sich um eine alte Platane versammelt. Sie stehen im Schnee wie dunkle, langhalsige Flaschenkürbisse, schlagen mit den Flügeln, fauchen und fressen Gras. »Ich möchte nicht durch diesen Spiegel gehen«, sage ich zu ihr. »Ich wollte nicht nur mit Benton nicht darüber sprechen. Ich möcht e mit niemandem darüber sprechen. Ich möchte überhaupt nicht darüber sprechen. Und indem ich unfreiwillige Bilder und Assoziationen nicht wiedergebe, also...« Wieder nickt Anna, diesmal nachdrücklich. »Indem du sie nicht wiedergibst, versperrst du der Fantasie den Weg in deine Arbeit«, führt sie meinen Gedanken zu Ende.
    »Ich muss klinisch argumentieren, objektiv. Gerade du müsstest das verstehen.«
    Sie sieht mich lange an, bevor sie antwortet. »Ist es das? Oder kann es sein, dass du den unerträglichen Schmerz vermeiden willst, den du unweigerlich heraufbeschwören würdest, wenn du dir bei deinen Fällen erlauben würdest, deine Fantasie ins Spiel zu bringen?« Sie beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Knie. »Was wäre zum Beispiel« - sie macht eine dramatische Pause - »wenn du mit Hilfe wissenschaftlicher und medizinischer Fakten und deiner Fantasie die letzten Minuten im Leben von Diane Bray bis in alle Einzelheiten rekonstruieren würdest? Was wäre, wenn es wie ein Film vor dir ablaufen würde - wenn du sehen würdest, wie sie angegriffen wird, wie sie blutet, wie sie gebissen und geschlagen wird? Wie sie stirbt?«
    »Das wäre unsäglich grauenhaft«, erwidere ich flüsternd. »Was für ein machtvolles Instrument, wenn Geschworene so einen Film sehen könnten«, sagt sie.
    Nervöse Impulse zucken unter meiner Haut wie tausende winziger Fische.
    »Aber wenn du durch diesen Spiegel gehen würdest, wie du dich ausdrückst«, fährt sie fort, »wo würde das enden?« Sie hebt die Hände. »Ah. Vielleicht würde es überhaupt nicht enden, und du wärst gezwungen, dir den Film von Bentons Ermordung anzusehen.«
    Ich schließe die Augen. Ich leiste ihr Widerstand. Nein. Bitte, Gott, lass mich das nicht sehen. Doch kurz sehe ich Benton i m Dunkeln vor mir, eine Pistole am Kopf, und höre das klickende Geräusch, das Zuschnappen von Stahl, als sie ihm Handschellen anlegen. Höhnische Bemerkungen. Sie verhöhnten ihn. Mister FBI, Sie sind ja so schlau, was werden wir wohl als Nächstes tun, Mister Profiler? Können Sie unsere Gedanken lesen, uns deuten, unser Verhalten vorhersagen? Ja? Er entgegnete nichts. Er fragte nichts, als sie ihn zwangen, einen kleinen Tante-Emma-Laden am westlichen Rand der University of Pennsylvania zu betreten, der um fünf Uhr nachmittags geschlossen hatte. Benton würde sterben. Sie würden ihn quälen und foltern, und auf diesen Teil hätte er sich konzentriert -darauf, wie er den Schmerz und die Erniedrigung kurzschließen könnte, die sie ihm mit Sicherheit zufügen würden, wenn sie Zeit dazu hätten. Dunkelheit und das Entfachen eines Streichholzes. Sein Gesicht im flackernden Schein der kleinen

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