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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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bei dir angerufen, und du hattest keine Zeit für mich. Warum? Weil du nicht reden wolltest.« Ich kann meine Gefühle nicht länger verstecken. Tränen rinnen mir übers Gesicht und tropfen in meinen Schoß wie Blut. »Ich sage immer zu meinen Patienten, wenn sie sich ihren Problemen nicht stellen, wird ihnen eines Tages di e Rechnung präsentiert werden.« Anna beugt sich vor, lehnt sich in die Worte, die sie direkt auf mein Herz abfeuert. »Für dich ist dieser Tag heute.« Sie deutet mit dem Finger auf mich und starrt mich an. »Du wirst jetzt mit mir reden, Kay Scarpetta.«
    Ich werfe einen getrübten Blick auf meinen Schoß. Meine Hose ist gesprenkelt von Tränen, und mir geht der lächerliche Gedanke durch den Kopf, dass die Tropfen vollkommen rund sind, weil sie in einem Neunzig- Grad-Winkel fielen. »Ich komme nie los davon«, murmle ich verzweifelt. »Wovon kommst du nicht los?«
    »Von meiner Arbeit. Alles erinnert mich an irgendetwas von der Arbeit. Ich spreche nicht darüber.«
    »Du sollst jetzt darüber sprechen«, sagt Anna. »Es ist albern.«
    Sie wartet, die geduldige Anglerin, die weiß, dass ich am Köder nibbel. Dann schlucke ich ihn. Ich führe Beispiele an, die ich peinlich, wenn nicht gar lächerlich finde. Ich trinke nie Tomaten- oder Gemüsesaft oder eine Bloody Mary mit Eis, denn wenn das Eis schmilzt, erinnern mich die Getränke an gerinnendes Blut, das sich vom Serum trennt. Seit dem Medizinstudium esse ich keine Leber mehr, und die Vorstellung, dass ein inneres Organ etwas für meinen Gaumen wäre, ist absurd. Ich erinnere mich an einen Morgen auf Hilton Head Island, als Benton und ich am Strand spazieren gingen und die zurückfließende Brandung den grauen Sand an manchen Stellen so kräuselte, dass er haargenau aussah wie die Innenwand eines Magens. Meine Gedanken drehen und wenden sich, wie es ihnen passt, und seit Jahren denke ich zum ersten Mal wieder an eine Reise nach Frankreich. Bei einer der seltenen Gelegenheiten, als Benton und ich uns wirklich von der Arbeit losmachen konnten, bereisten wir die großen Weingüter Burgunds, darunter so berühmte Namen wie Drouhin und Dugat, und probierten aus Fässern mit Chambertin, Montrachet, Musigny und Vosne-Romanee. »Ich weiß noch, ich war auf unbeschreibliche Art gerührt«, schildere ich längst vergessen geglaubte Erinnerungen.
    »Wie sich das Licht der ersten Frühlingstage auf den Hängen veränderte und wie die für den Winter zurückgeschnittenen, knorrigen Arme der Weinstöcke die Hände ausstreckten und uns ihr Bestes darboten, ihr Wesen. Und so oft übersehen wir ihren Charakter, nehmen uns nicht die Zeit, die Harmonie der feinen Töne zu schmecken, die gute Weine auf unserer Zunge entfalten, wenn man sie lässt.« Ich verstumme. Anna wartet schweigend, bis ich wieder in die Gegenwart zurückkehre. »Und mich fragt man immer nur nach meinen Fällen«, fahre ich fort. »Man fragt mich nur nach den Grausamkeiten, die ich sehe, dabei habe ich noch ganz andere Seiten. Ich bin kein billiger Nervenkitzel mit Schraubverschluss.«
    »Du fühlst dich einsam«, sagt Anna leise. »Und missverstanden. Vielleicht so entmenscht wie deine toten Patienten.« Ich antworte ihr nicht, sondern fahre fort mit meinen Analogien, beschreibe die Zugreise, die Benton und ich mehrere Wochen lang durch Frankreich machten und die in Bordeaux endete. Je weiter wir nach Süden kamen, umso röter wurden die Hausdächer. Der Frühling schimmerte als unwirkliches Grün auf den Bäumen, und kleine Wasseradern und größere Arterien schlängelten sich zum Meer, so wie alle Blutgefäße im Körper im Herzen beginnen und enden. »Mir springt ständig die Symmetrie der Natur ins Auge, die Art, wie Bäche und Flüsse aus der Luft dem System des Blutkreislaufs ähneln, und Felsen erinnern mich an zerschmetterte Knochen«, sage ich. »Und das Gehirn ist zu Beginn glatt und wird mit der Zeit gewunden und gefurcht, so wie Berge im Lauf von tausenden von Jahren unverwechselbare Formationen bilden. Wir unterliegen einerseits den gleichen physikalischen Gesetzen, andererseits auch wieder nicht. Dem Gehirn zum Beispiel sieht man nicht an, wie es funktioniert. Oberflächlich betrachtet ist es so aufregend wie ein Pilz.«
    Anna nickt. Sie fragt mich, ob ich mit Benton über diese Beobachtungen gesprochen habe. Ich verneine. Sie will wissen , warum ich diese scheinbar harmlosen Wahrnehmungen nicht mit ihm, meinem Partner, geteilt habe, und ich bitte mir kurze Bedenkzeit aus.

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