Das letzte Revier
weitermachen, als hätte ich nie etwas mit diesen grauenhaften Morden zu tun gehabt - als hätte ich die Opfer nicht seziert oder wäre selbst nur knapp mit dem Leben davongekommen, als er sich Zutritt zu meinem Haus verschaffte? Welche Rolle spiele ich in dieser Sache, Buford, vorausgesetzt ihm wird der Prozess in New York gemacht?«
»Das hängt von Ms. Berger ab«, antwortet er. »Eine Gratismahlzeit.« Das ist mein Ausdruck für Opfer, denen nie Gerechtigkeit widerfährt. In dem Szenario, das Righter vorschlägt, wäre ich zum Beispiel das kostenlose Essen, weil Chandonne in New York nie für das belangt würde, was er mir in Richmond antun wollte. Noch skrupelloser ist, dass er für die Morde, die er hier begangen hat, nicht einmal einen Klaps auf die Hand bekommen wird. »Sie werfen diese Stadt den Wölfen zum Fraß vor«, sage ich zu ihm. Ihm wird die Doppeldeutigkeit meiner Äußerung im selben Augenblick bewusst wie mir. Ich sehe es seinen Augen an. Richmond wurde bereits einem Wolf zum Fraß vorgeworfen, nämlich Cha ndonne, zu dessen Modus operandi in Frankreich es unter anderem gehörte, Zettel mit der Unterschrift Le Loup-Garou, der Werwolf, am Tatort zurückzulassen. Die Gerechtigkeit für die Opfer in dieser Stadt wird in fremden Händen liegen, oder, was die Sache besser trifft, es wird für sie keine Gerechtigkeit geben. Alles ist drin. Alles wird passieren. »Was, wenn Frankreich einen Auslieferungsantrag stellt?«, frage ich Righter. »Was, wen n New York dem stattgibt?«
»Wir können Einwände aufzählen, bis wir schwarz sind«, sagt er. Ich starre ihn mit unverhohlener Verachtung an. »Nehmen Sie es nicht persönlich, Kay.« Righter wirft mir einen seiner frommen, traurigen Blicke zu. »Machen Sie keinen persönlichen Krieg daraus. Wir wollen diesen Dreckskerl nur aus dem Verkehr ziehen. Wer es macht, spielt keine Rolle.« Ich stehe wieder auf. »O doch, das spielt eine Rolle. Und was für eine. Sie sind ein Feigling, Buford.« Ich kehre ihm den Rücken und gehe aus dem Raum.
Eine Weile später höre ich hinter der geschlossenen Tür meines Zimmers, wie Anna Righter hinausführt. Offenbar hat er noch mit ihr gesprochen, und ich frage mich, was er über mich gesagt haben könnte. Ich sitze vollkommen verloren auf der Kante meines Betts. Ich kann mich nicht erinnern, mich je so einsam, so verängstigt gefühlt zu haben, und bin erleichtert, als Anna leise an meine Tür klopft. »Komm rein«, sage ich mit zittriger Stimme. Sie steht in der Tür und sieht mich an. Ich komme mir vor wie ein Kind, machtlos, hoffnungslos, dumm. »Ich habe Righter beleidigt«, sage ich. »Auch wenn ich Recht habe. Ich habe ihn einen Feigling genannt.«
»Er glaubt, dass du im Augenblick labil bist«, erwidert sie.
»Er ist besorgt. Er ist zudem ein Mann ohne Rückgrat.«
Sie lächelt kurz.
»Anna, ich bin nicht labil.«
»Warum sind wir hier, wenn wir vor dem Feuer sitzen können?«, sagt sie. Sie will mit mir reden. »Okay«, sage ich, »du hast gewonnen.«
5
Ich war nie Annas Patientin. Ich habe nie eine Psychotherapie gemacht, was nicht heißen soll, dass es nicht Zeiten gab, in denen eine Therapie hilfreich gewesen wäre. Die gab es sehr wohl. Ich kenne niemanden, der nicht von einer guten Beratung profitieren würde. Es liegt einfach daran, dass ich sehr zurückhaltend bin und anderen nicht leicht vertraue, und das aus gutem Grund. So etwas wie absolute Diskretion gibt es nicht. Ich bin Ärztin. Ich kenne andere Ärzte. Ärzte sprechen miteinander, mit ihren Familien und Freunden. Sie erzählen Dinge, die keiner anderen Menschenseele mitzuteilen sie bei Hippokrates geschworen haben. Anna schaltet die Lampen aus. Es ist später Vormittag, draußen ist es bedeckt und dunkel, als wäre schon Abend. Die rosa Wände fangen den Feuerschein ein und machen den Raum unwiderstehlich behaglich. Ich bin plötzlich befangen. Anna hat die Bühne vorbereitet, auf der ich die Schleier fallen lassen soll. Ich setze mich in den Schaukelstuhl, sie zieht eine Ottomane heran und setzt sich auf die Kante, sitzt mir gegenüber wie ein großer Vogel vor seinem Nest.
»Du wirst diese Sache nicht durchstehen, wenn du weiterhin schweigst.« Sie ist brutal direkt. Schmerz schnürt mir die Kehle zu, und ich schlucke. »Du bist traumatisiert«, fährt Anna fort. »Kay, du bist nicht aus Stahl. Nicht einmal du kannst das alles ertragen und weitermachen, als wäre nichts geschehen. Nach dem Mord an Benton habe ich unzählige Male
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