Das letzte Revier
fixiere sie mit einem durchdringenden Blick. »Eine Leiche zu sehen, Fotos, Videos, auf denen jemand grausam gequält wird und Todesangst hat, und du merkst, dass manche Leute das insgeheim genießen? Dass sie es erregend finden?«
»Glaubst du, dass es Benton erregte?«, fragt Anna. »Nein. Er hat solche Dinge jede Woche, vielleicht sogar jeden Tag gesehen. Erregend, nie. Er musste ihre Schreie hören. Er hört e sie weinen und betteln. Diese armen Frauen wussten es nicht. Auch wenn sie es gewusst hätten, hätten sie sich nicht anders verhalten können.«
»Sie wussten es nicht? Was wussten diese armen Frauen nicht?«
»Dass Weinen sexuelle Sadisten nur noch mehr erregt. Ebenso Betteln. Angst«, sage ich.
»Glaubst du, dass Benton weinte oder bettelte, als seine Mörder ihn entführten und in dieses dunkle Haus brachten?« Anna wird gleich einen Punkt machen.
»Ich habe seinen Autopsiebericht gesehen.« Ich ziehe mich in mein klinisches Versteck zurück. »Es gibt wirklich keine definitive Antwort darauf, was vor Eintritt des Todes passierte. Er wurde so stark verbrannt. Es wurde so viel Gewebe verbrannt, dass es zum Beispiel nicht mehr möglich war festzustellen, ob er noch einen Blutdruck hatte, als sie anfingen zu schneiden.«
»Er hatte eine Schusswunde am Kopf, nicht wahr?«, fragt Anna. »Ja.«
»Was, glaubst du, kam zuerst?«
Ich starre sie wortlos an. Ich habe nicht rekonstruiert, wie er gestorben ist. Ich konnte mich nie dazu überwinden. »Stell es dir vor, Kay«, drängt mich Anna. »Du weißt es doch, oder? Du hast zu viele Todesfälle bearbeitet, um es nicht zu wissen.«
In meinem Kopf ist es dunkel, so dunkel wie in dem Lebensmittelladen in Philadelphia.
»Er hat etwas getan, nicht wahr?« Sie beugt sich mir auf der Kante der Ottomane entgegen. »Er hat gewonnen, oder?«
»Gewonnen?« Ich räuspere mich. »Gewonnen!«, rufe ich. »Sie haben sein Gesicht gehäutet und ihn verbrannt, und du sagst, er hat gewonnen?«
Sie wartet darauf, dass ich die Verbindung ziehe. Als ich nicht reagiere, steht sie auf und geht zum Kamin, berührt beim Vorbeigehen leicht meine Schulter. Sie wirft ein Scheit ins Feuer, sieht mich an und sagt: »Kay, sag mir, warum sie ihn nach begangener Tat hätten erschießen sollen?« Ich reibe mir die Augen und seufze.
»Das Gesicht zu häuten war Teil des MO«, fährt sie fort. »Was Newton Joyce seinen Opfern am liebsten antat.« Sie bezieht sich auf den teuflischen Partner der teuflischen Carrie Grethen - ein psychopathisches Paar, das Bonnie und Clyde aussehen ließ wie einen Cartoon aus meiner Jugend. »Er schnitt ihre Gesichter aus und lagerte sie als Souvenirs in der Tiefkühltruhe, und weil Joyces Gesicht so reizlos war, so voller Aknenarben«, fä hrt Anna fort, »stahl er, worum er andere beneidete, Schönheit. Stimmt das?«
»Vermutlich. Soweit man sich auf Erklärungen, warum Leute tun, was sie tun, verlassen kann.«
»Und es war entscheidend, dass Joyce das Gesicht vorsichtig herausschnitt, ohne es zu beschädigen. Weswegen er seine Opfer nicht erschoss, schon gar nicht in den Kopf. Er wollte nicht riskieren, das Gesicht, die Kopfhaut zu beschädigen. Und Erschießen wäre außerdem zu einfach gewesen.« Anna zuckt die Achseln. »Zu schnell. Vielleicht auch zu gnädig. Besser ist es, erschossen zu werden, als dass einem die Kehle durchgeschnitten wird. Warum also erschossen Newton Joyce und Carrie Grethen Benton?« Anna steht vor mir. Ich blicke zu ihr auf. »Er hat etwas gesagt«, antworte ich ihr endlich zögernd. »Er muss etwas gesagt haben.«
»Ja.« Anna setzt sich wieder. »Ja, ja.« Sie ermuntert mich mit beiden Händen, als würde sie wartende Autos über die nächste Kreuzung dirigieren. »Was, was? Sag es mir, Kay.« Ich antworte, dass ich nicht wüsste, was Benton zu Newton Joyce und Carrie Grethen gesagt hätte. Aber er sagte oder tat etwas, was den einen oder die andere die Kontrolle über das Spie l verlieren ließ. Es war eine impulsive Handlung, eine unfreiwillige Reaktion, als einer der beiden Benton die Waffe an den Kopf hielt und auf den Abzug drückte. Bum. Und der Spaß war vorbei. Danach spürte Benton nichts mehr, merkte nichts mehr.
Gleichgültig, was sie anschließend mit ihm taten, es hatte keinerlei Bedeutung mehr. Er war bereits tot oder starb. Er war ohne Bewusstsein. Er spürte das Messer nicht. Vielleicht sah er es nicht einmal.
»Du hast Benton so gut gekannt«, sagt Anna. »Du kanntest seine Mörder, oder zumindest
Weitere Kostenlose Bücher