Das letzte Revier
Flamme, die mit jedem Luftzug zittert, während diese zwei psychopathischen Arschlöcher sich in dem dreckigen kleinen pakistanischen Lebensmittelladen bewegen, den sie abbrannten, nachdem er tot war.
Ich schlage die Augen wieder auf. Anna spricht mit mir. Kalter Schweiß läuft an meinen Seiten hinunter wie Insekten. »Entschuldige. Was hast du gesagt?«
»Sehr, sehr schmerzhaft.« In ihren Zügen spiegelt sich Mitgefühl. »Ich kann es mir nicht vorstellen.«
Wieder sehe ich Benton vor mir. Er trägt seine Lieblingshose und seine Joggingschuhe, Laufschuhe von Saucony. Er trug immer nur diese Schuhe, und ich nannte ihn einen Pedanten, weil er eigen war mit den Dingen, die er wirklich mochte. Und er hat das alte UVA-Sweatshirt an, das Lucy ihm schenkte, dunkelblau mit orangefarbenem Schriftzug, das im Lauf der Jahre verwaschen und weich wurde. Er hatte die Ärmel abgeschnitten, weil sie zu kurz waren, und mir gefiel immer, wie er in diesem alten, abgetragenen Sweatshirt aussah mit seinem silbernen Haar, dem klaren Profil, den Geheimnissen hinter de n intensiven dunklen Augen. Seine Hände liegen auf den Armstützen des Stuhls. Er hat die Finger eines Pianisten, lang und schlank, expressiv, wenn er redet, zärtlich, wenn er mich berührt, was immer seltener der Fall ist. Ich sage das alles laut zu Anna, spreche in der Gegenwartsform von einem Mann, der seit über einem Jahr tot ist.
»Was glaubst du, was er dir vorenthalten hat?«, fragt Anna. »Welche Geheimnisse hast du in seinen Augen gesehen?«
»O Gott. Dinge, die mit seiner Arbeit zu tun hatten.« Mein Atem geht stockend, mein Herz schlägt ängstlich. »Er hat viele Details für sich behalten. Einzelheiten, die er in manchen Fällen entdeckt hat, Dinge, die so schrecklich waren, dass niemand anders sie erfahren sollte.«
»Nicht einmal du? Gibt es etwas, was du noch nicht gesehen hast?«
»Die Schmerzen«, sage ich leise. »Ich muss ihre Todesangst nicht sehen. Ich muss ihre Schreie nicht hören.«
»Aber du rekonstruierst sie.«
»Das ist nicht das Gleiche. Nein, das ist es nicht. Viele der Mörder, mit denen Benton zu tun hatte, machten Fotos oder Ton- und manchmal sogar Videoaufnahmen von dem, was sie ihren Opfern antaten. Benton musste zusehen. Er musste zuhören. Ich sah es ihm immer an. Er war grau, wenn er nach Hause kam. Er sprach nicht viel während des Essens, er aß nicht viel, und an diesen Abenden trank er mehr als gewöhnlich.«
»Aber er hat dir nichts erzählt -«
»Nie«, unterbreche ich sie heftig. »Niemals. Das war verbotenes Gelände, niemand durfte es betreten. Ich habe mal ein Seminar zur Feststellung von Todesursachen in St. Louis gehalten. Das war, bevor ich hierher gezogen bin, damals war ich noch stellvertretende Chefpathologin in Miami. Mein Thema war Tod durch Ertrinken. Und nachdem ich schon mal dort war, beschloss ich, alle Kurse zu besuchen. An einem Nachmitta g sprach ein forensischer Psychiater über Sexualmord. Er zeigte Dias von lebenden Opfern. Eine Frau war an einen Stuhl gefesselt, und ihr Peiniger hatte eine Schnur fest um eine ihrer Brüste gebunden und Stecknadeln in ihre Brustwarze gesteckt. Ich sehe noch immer ihre Augen vor mir. Dunkle Seen, in denen sich die Hölle spiegelte, und ihr Mund war weit aufgerissen, als sie schrie. Und ich habe Videoaufnahmen gesehen«, fahre ich tonlos fort. »Eine entführte Frau, gefesselt und gefoltert. Sie sollte gerade mit einem Kopfschuss umgebracht werden. Sie wimmert nach ihrer Mutter. Sie bettelt und weint. Ich glaube, sie wurde in einem Keller gefangen gehalten, die Bilder waren dunkel und körnig. Dann der Schuss. Und Stille.« Anna schweigt. Das Feuer knackt und zischt. »Ich war die einzige Frau in einem Raum mit ungefähr sechzig Polizisten«, füge ich hinzu.
»Es war besonders schlimm, dass du die einzige Frau warst, weil die Opfer Frauen waren«, sagt Anna.
Wut wallt in mir auf, als ich mich daran erinnere, wie manche Männer die Dias und Videoaufnahmen anstarrten. »Die sexuelle Misshandlung hat sie erregt«, sage ich. »Ich sah es ihren Gesichtern an, ich spürte es. Das Gleiche gilt für manche Profiler, Bentons Kollegen. Sie beschrieben, wie Bundy eine Frau von hinten vergewaltigte, während er sie erwürgte. Ihre Augen traten aus den Höhlen, die Zunge hing ihr aus dem Mund. Er kam im Augenblick ihres Todes. Und die Männer, die mit Benton arbeiteten, erzählten die Geschichte mit etwas zu viel Vergnügen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist?« Ich
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