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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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darin, mich plötzlich auf die Arbeit zu konzentrieren und jeden Versuch seitens einer anderen Person, mich auf etwas anzusprechen, worüber ich nicht reden will, zu ignorieren. »Um die Dinge etwas zu beschleunigen«, sage ich, bevor Rose mich mit einem ihrer bedeutungsschwangeren Blicke bedenken kann, »verzichten wir auf die Personalbesprechung. Wir müssen diese Leichen hier rausschaffen, bevor das Wetter noch schlechter wird.«
    Rose ist seit zehn Jahren meine Sekretärin. Sie ist die Mutter meines Büros. Sie kennt mich besser als alle anderen, missbraucht ihre Position jedoch nicht, indem sie mich in Richtungen drängt, in die ich nicht gehen will. Ich sehe ihr an, dass Neugier bezüglich Jaime Berger ihre Gedanken beherrscht. Fragen blitzen in ihren Augen auf. Aber sie wird sie nicht stellen. Sie weiß verdammt gut, wie ich darüber denke, dass der Fall statt in Richmond in New York verhandelt werden soll, und dass ich nicht darüber reden will. »Ich glaube, Dr. Chong und Dr. Fielding sind schon in der Leichenhalle«, sagt sie. »Dr. Forbes habe ich noch nicht gesehen.« Mir geht auf, dass Righter mich nicht anrufen wird, auch wenn heute im Fall Mayo Brown weiter verhandelt wird und die Gerichte wegen Schnees nicht schließen werden. Er wird meinen Bericht stipulieren und, wenn es hochkommt, den Toxikologen in den Zeugenstand rufen. Righter wird mir auf keinen Fall persönlich gegenübertreten, nicht nachdem ich ihn einen Feigling genannt habe und er insgeheim wissen muss, dass der Vorwurf berechtigt ist. Er wird wahrscheinlich einen Weg finden, mich für den Rest seines Lebens zu meiden, und dieser unerfreuliche Gedanke führt zum nächsten, während ich den Flur entlanggehe. Was bedeutet das alles für meine Zukunft?
    Ich öffne die Tür der Damentoilette und verlasse im selben Moment eine getäfelte, mit Teppichboden ausgelegte Welt und komme nach einer Reihe von Umkleidekabinen in eine ander e aus biologischen Gefahren, Nüchternheit und heftigen Attacken auf die Sinne. Unterwegs ziehe ich Schuhe und Straßenkleidung aus, hänge unbeholfen Jacke, Hose und weiße Seidenbluse auf Kleiderbüge l und verstaue sie in einem dunkelgrünen Spind. In meinem linken Ellbogen pocht es. Ich habe ein Paar Nikes in der Nähe der Tür zum Autopsiesaal abgestellt. Diesen Schuhen ist nicht bestimmt, je wieder das Land der Lebenden zu betreten, und wenn die Zeit kommt, sich ihrer zu entledigen, werde ich sie verbrennen. Ich kämpfe mich in einen bodenlangen Mega-Shield-Kittel mit virusresistenter Front und Ärmeln, versiegelten Nähten und einem hohen Stehkragen. Ich ziehe Überschuhe an, dann eine OP-Mütze und eine Gesichtsmaske. Den letzten Touch erhält mein flüssigkeitsabweisender Aufzug durch einen Gesichtsschild, um meine Augen vor Spritzern zu schützen, die Seuchen wie Hepatitis oder Aids übertragen könnten.
    Rostfreie Stahltüren öffnen sich automatisch, und meine Füße machen papierene Geräusche auf dem braunen Vinylboden des mit einem Epoxidharz versiegelten Autopsiesaals. Ärzte in Blau beugen sich über fünf Stahltische, die an Stahlbecken angeschlossen sind, Wasser rauscht, Schläuche saugen, Röntgenaufnahmen hänge n an Lichtkästen und bilden eine schwarzweiße Galerie organförmiger Schatten, durchsichtiger Knochen und winziger heller Kugelfragmente, die wie lose Metallsplitter in Flugapparaten Dinge zertrümmern, Lecks verursachen und funktionsnotwendige Mechanismen zum Erliegen bringen. In Sicherheitsschränken lufttrocknen unter Hauben mit Klammern befestigte Karten mit DNS-Proben, die mit Blut verspritzt sind und an winzige japanische Flaggen erinnern. In den Ecken hängen Fernsehmonitore, auf denen laut ein Auto brummt, ein Leichenwagen, der gehalten hat, um jemanden einzuliefern oder abzuholen. Das ist meine Bühne. Hier trete ich auf. So wenig einladend ein durchschnittlicher Mensch die morbiden Gerüche, Anblicke und Geräusche empfinden mag, die mich hier begrüßen, ich bin plötzlic h unermesslich erleichtert. Mein Herz schlägt schneller, als die Ärzte aufsehen und mir nickend einen guten Morgen wünschen. Ich bin in meinem Element. Ich bin zu Hause.
    Ein saurer, rauchiger Gestank erfüllt den langen, hohen Raum, und ich sehe die schlanke, nackte, rußige Leiche auf einer Bahre, die aus dem Weg gerollt wurde. Allein, kalt und schweigend wartet der Tote, bis er an der Reihe ist. Er wartet auf mich. Ich bin die letzte Person, mit der er in einer Sprache reden wird, die nicht

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