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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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großes Gebäude heißt Biotech II. Es bildet den Mittelpunkt des Biotechnology Research Park, der das Zentrum von Richmond auf erstaunliche Weise verändert hat. Aufgegebene Kaufhäuser und andere zugenagelte Gebäudehülsen wurden erbarmungslos durch elegante Klinker-Glas-Bauten ersetzt. Biotech hat eine Stadt wieder belebt, die, lange nachdem die Aggressoren aus dem Norden den letzten Schuss abge feuert hatten, immer noch am Boden war.
    Als ich in den späten achtziger Jahren hierher zog, führte Richmond die Liste der Städte mit der höchsten Mordrate pro Kopf in den Vereinigten Staaten an. Unternehmen flohen in benachbarte Gemeinden. Nach Ladenschluss war die Innenstadt buchstäblich ausgestorben. Das hat sich geändert. Bemerkenswerterweise ist Richmond auf dem Weg, eine Stadt der Wissenschaft und Aufklärung zu werden, was ich zugegebenermaßen nie für möglich gehalten hätte. Und ich gestehe, ich habe Richmond gehasst, als ich hierher kam, aus Gründen, die tiefer reichen als Marinos gehässiges Verhalten mir gegenüber oder vieles in Miami, das ich hier vermisste. Ich glaube, dass Städte Charakter haben; die Energie der Menschen , die in ihnen leben und sie beherrschen, färbt auf sie ab. In seiner schlimmsten Zeit war Richmond dickköpfig und kleingeistig und legte die beleidigte Arroganz von jemandem an den Tag, dessen Glanzzeit vorbei ist und der jetzt von den Leuten herumkommandiert wurde, die er früher unterdrückt hatte oder die wie in manchen Fällen - sein Eigentum gewesen waren. Es herrschte eine verrückte Exklusivität, die Leuten wie mir das Gefühl vermittelte, mit Verachtung gestraft zu werden und allein zu sein. Und ich entdeckte die Spuren alter Verletzungen und Demütigungen, ähnlich wie ich sie bei Leichen finde. Ich bemerkte eine spirituelle Schwermut in dem trüben Dunst, der während der Sommermonate wie Schlachtenrauch über den Sümpfen und endlosen Beständen an dürren Kiefern hängt, den Fluss entlangzieht und die kaputten Klinkerpfeiler, Gießereien und Gefangenenlager einhüllt, die von jenem schrecklichen Krieg übrig geblieben sind. Ich empfand Mitgefühl. Ich gab Richmond nicht auf. Heute Morgen jedoch kämpfe ich mit dem wachsenden Gefühl, dass Richmond mich aufgegeben hat.
    Die Dächer der Innenstadtskyline sind in Wolken verschwunden, es fällt dichter Schnee. Ich starre aus meinem Bürofenster, abgelenkt von den großen Flocken, die vorbeischweben, während die Telefone klingeln und Menschen den Flur entlanggehen. Ich mache mir Sorgen, dass staatliche und städtische Einrichtungen schließen werden. Das darf an meinem ersten Tag im Büro nicht passieren. »Rose?«, rufe ich meiner Sekretärin im Zimmer nebenan zu. »Haben Sie den Wetterbericht gehört?«
    »Schnee«, dringt ihre Stimme zu mir.
    »Das sehe ich. Aber die Stadt hat noch nichts geschlossen, oder?« Ich greife nach meinem Kaffee und wundere mich schweigend über den unbarmherzigen weißen Sturm, der unsere Stadt beutelt. Das Winterwunderland erstreckt sich normalerweise westlich von Charlottesville und nördlich von Fredericksburg, Richmond gehört nicht dazu. Angeblich wei l der James River die Luft gerade so weit erwärmt, dass es nicht schneit, sondern ein gefrierender Regen fällt, der über uns hereinbricht wie Grants Truppen und die Stadt lähmt.
    »Bis zu zwanzig Zentimeter Neuschnee. Es soll am späten Nachmittag nachlassen, Tiefsttemperaturen um sechs Grad unter null.« Rose muss einen Internetwetterbericht aufgerufen haben. »Höchstwerte für die nächsten drei Tage nicht über null. Sieht aus, als bekämen wir weiße Weihnachten. Das ist doch was.«
    »Rose, was machen Sie an Weihnachten.« »Nichts Besonderes.«
    Ich schaue auf die Stapel von Fallberichten und Totenscheinen, schiebe Memozettel mit Telefonbotschaften und Nachrichten aus dem Haus und Post hin und her. Mein Schreibtisch ist voll gepackt, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. »Zwanzig Zentimeter? Sie werden den nationalen Notstand ausrufen«, sage ich. »Wir müssen herausfinden, ob außer Schulen noch was dichtmacht. Was steht in meinem Terminkalender, was noch nicht abgesagt ist?«
    Rose ist es überdrüssig, durch die Wand mit mir zu reden, und kommt herein. Sie sieht gut aus in dem grauen Hosenanzug und dem weißen Rollkragenpullover, das graue Haar zu einem französischen Zopf geflochten. Sie hat wie meistens meinen großen Terminkalender dabei und schlägt ihn auf. Sie fährt mit dem Finger über die Einträge für

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