Das letzte Revier
und lernte in Wien einen amerikanische n Musikstudenten kennen. Er war ein sehr guter Geiger, sehr fesch und witzig, und ich ging mit ihm nach Amerika. Vor allem weil ich nicht mehr in Osterreich leben wollte. Ich konnte nicht mit dem leben, wogegen sich das Gewissen meiner Familie verschlossen hatte, und wenn ich jetzt die Landschaft meiner Heimat sehe, ist das Bild noch immer von unheilvollen, dunklen Rauchwolken verhangen. Ich sehe es vor mir. Immer.«
In Annas Wohnzimmer ist es kalt, vereinzelte Kohlen schauen mich an wie willkürlich verteilte Augen, die im Dunkeln glühen. »Was wurde aus dem amerikanischen Musiker?«, frage ich sie.
»Vermutlich war die Realität stärker als wir.« In ihrer Stimme schwingt Trauer mit. »Es war eine Sache, sich in einer der schönsten, romantischsten Städte der Welt in eine junge österreichische Psychiaterin zu verlieben. Es war etwas anderes, sie nach Virginia zu bringen, die frühere Hauptstadt der Konföderatio n, in der die Leute noch immer die Flagge der Konföderierten aufhängen. Ich habe als Assistenzärztin im MCV angefangen, und James spielte mehrere Jahre lang mit dem Symphonieorchester von Richmond. Dann zog er nach Washington, und wir trennten uns. Ich bin dankbar, dass wir nie geheiratet haben. Diese Komplikation blieb uns erspart, diese oder Kinder.«
»Und deine Familie?«, frage ich.
»Meine Schwestern sind tot. Mein Bruder lebt noch in Wien. Wie mein Vater ist er Bankier. Wir sollten schlafen gehen«, sagt Anna. Ich zittere, als ich unter die Bettdecke schlüpfe, und ich ziehe die Beine an und lege ein Kissen unter meinen gebrochenen Arm. Die Gespräche mit Anna beginnen, mich an den Rändern aufzulösen. Ich spüre Phantomschmerzen in Teilen meiner selbst, die der Vergangenheit angehören, die verschwunden sind, und zudem belastet mich die Geschichte, die sie über ihr eigenes Leben erzählt hat. Natürlich würde sie den meisten Leuten nicht freiwillig von ihrer Vergangenheit erzählen. Eine Verbindung zu den Nazis is t auch heute noch ei n schreckliches Stigma, und als ich darüber nachdenke, sehe ich ihr Verhalten und ihren Lebensstil in völlig anderem Licht. Es spielt keine Rolle, dass Anna kein Mitspracherecht hatte, als es darum ging, wer sich in ihrem Haus einquartierte oder mit wem sie im Alter von siebzehn Jahren schlafen musste. Wenn andere es wüssten, würden sie ihr nicht vergeben. »Mein Gott«, murmle ich und starre empor zur Decke in Annas dunklem Gästezimmer. »O Gott.«
Ich stehe wieder auf und gehe den dunklen Gang entlang durch das Wohnzimmer und in den östlichen Teil des Hauses. Das große Schlafzimmer befindet sich am Ende des Flurs, und die Tür steht offen. Blasses Mondlicht strömt durch die Fenster und fällt auf ihre Gestalt unter der Decke. »Anna?«, sage ic h leise, »Bist du wach?« Sie bewegt sich, dann setzt sie sich auf. Ich kann kaum ihr Gesicht sehen, als ich näher zu ihr gehe. Ihr weißes Haar fällt ihr bis auf die Schultern. Sie sieht aus, als wäre sie hundert Jahre alt. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie schlaftrunken und etwas beunruhigt. »Es tut mir Leid«, sage ich zu ihr. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir tut, Anna, ich war eine schlechte Freundin.«
»Du bist die Freundin, der ich am meisten vertraue.« Sie fasst nach meiner Hand und drückt sie, und unter der weichen, lockeren Haut fühlen sich ihre Knochen klein und zerbrechlich an, als wäre sie plötzlich alt und verletzlich geworden und nicht mehr die Titanin, die sie in meinen Augen immer war. Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt ihre Geschichte kenne.
»Du hast so viel erleiden müssen und so viel allein getragen«, flüstere ich. »Es tut mir Leid, dass ich nicht für dich da war. Es tut mir so Leid«, sage ich noch einmal. Ich beuge mich vor, nehme sie wegen dem Gips unbeholfen in den Arm und küsse sie auf die Wange.
8
Selbst in den stressigsten Momenten, wenn ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht, schätze ich meine Arbeit. Mir ist immer bewusst, dass das gerichtsmedizinische System, dem ich vorstehe, wahrscheinlich eins der besten im ganzen Land, wenn nicht in der Welt ist, und dass ich im Direktorium des Virginia Institute for Forensic Science and Medicine sitze, der ersten gerichtsmedizinischen Ausbildungsstätte seiner Art. Und all das an einem der am fortschrittlichsten und am besten ausgestatteten Institute, die ich kenne. Unser neues, für dreißig Millionen Dollar erbautes, knapp 14.000 Quadratmeter
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