Das letzte Revier
eine Leiche unbekleide t starb, zum Beispiel beim Baden oder auf dem Operationstisch. Aber meistens erspare ich meinen Patienten keine Unwürdigkeiten. Ich darf nicht. Manchmal lauern die entscheidenden Beweise in den dunkelsten, delikatesten Öffnungen oder kleben unter Fingernägeln oder an Haaren. Während ich die intimsten Orte dieses Mannes untersuche, finde ich heilende Risse in seinem After. In seinen Mundwinkeln entdecke ich Abschürfungen. Fasern kleben an seiner Zunge und an den Innenseiten seiner Backen. Ich nehme jeden Zentimeter von ihm unter die Lupe, und die Geschichte, die er erzählt, wird immer verdächtiger. Seine Ellbogen und Knie sind leicht abgeschürft und mit Schmutz und Fasern bedeckt, die ich auflese, indem ich die klebende Rückseite von Postit-Zetteln dagegen drücke, anschließend lege ich die Zettel in Plastiktüten. An beiden Handgelenken finde ich trockene rötlichbraune Abschürfungen und winzige Hautfetzen. Ich entnehme Blut aus den Darmbeinvenen und Glaskörperflüssigkeit aus den Augen, und Reagenzgläser fahren in einem Geschirraufzug hinauf in das toxikologische Labor im dritten Stock, damit Alkohol- und Kohlenmonoxidtests durchgeführt werden. Um halb elf, als ich die Haut vom Y-Schnitt zurückschlage, sehe ich, wie ein großer älterer Mann auf meinen Tisch zukommt. Er hat ein breites müdes Gesicht und bleibt in sicherer Entfernung von der Leiche stehen, in der Hand eine braune Lebensmitteltüte, die mit einem roten Band zugeklebt ist. Ich sehe einen Augenblick die Tüte vor mir auf meinem roten Jarrah-Holz-Esszimmertisch mit meiner Kleidung. »Detective Stanfield nehme ich an.« Ich halte einen Hautlappen hoch und trenne ihn mit kurzen schnellen Skalpellschnitten von den Rippen.
»Guten Morgen.« Er starrt auf die Leiche, reißt sich aber zusammen. »Für ihn vermutlich nicht.«
Stanfield hat sich nicht die Mühe gemacht, Schutzkleidung über seinem schlecht sitzenden Fischgrätanzug anzuziehen. Er trägt weder Handschuhe noch Überschuhe. Er blickt zu meine m dicken linken Arm und sieht davon ab, sich zu erkundigen, wie ich ihn mir gebrochen habe. Er weiß es bereits. Wieder werde ich daran erinnert, dass mein Leben in den Nachrichten breitgetreten wurde, die zu verfolgen ich mich hartnäckig weigere. Soweit es einer Psychiaterin gestattet ist, wirft Anna mir vor, ein Feigling zu sein, ohne das Wort »Feigling« in den Mund zu nehmen. »Verdrängung« nennt sie es. Das macht mir nichts. Ich halte mich von Zeitungen fern und höre weder, noch sehe ich irgendetwas, was über mich berichtet wird.
»Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, aber die Straßen sind schlecht bis miserabel, Ma'am«, sagt Stanfield. »Hoffentlich haben Sie Schneeketten. Ich hatte keine und bin stecken geblieben. Ich musste eine n Abschleppwagen rufen und mir welche aufziehen lassen, deswegen bin ich so spät. Haben Sie schon was gefunden?«
»Die CO 2 -Konzentration beträgt zweiundsiebzig Prozent. Sehen Sie, wie kirschrot das Blut ist? Typisch für eine hohe CO 2 -Konzentration.« Ich nehme die Rippenschere von dem Wagen mit den chirurgischen Instrumenten. »Kein Alkohol i m Blut.«
»Dann ist er also an dem Feuer gestorben, ja?«
»Wir wissen, dass er eine Spritze im Arm hatte, aber Todesursache ist eine Kohlenmonoxidvergiftung. Sagt uns leider nicht viel.« Ich schneide durch die Rippen. »Er hat Verletzungen im Afterbereich - mit anderen Worten: Beweise für homosexuelle Aktivitäten -, und zu irgendeinem Zeitpunkt vor seinem Tod waren ihm die Hände gebunden. Es sieht zudem so aus, als wäre er geknebelt worden.« Ich deute auf die Abschürfungen an den Handgelenken und den Mundwinkeln. Stanfield reißt die Augen auf. »Die Abschürfungen an den Handgelenken sind noch nicht verschorft«, fahre ich fort. »Das heißt, sie sind frisch. Und weil sich noch Fasern in seinem Mund finden, können Sie davon ausgehen, dass er kurz vor oder zum Zeitpunkt seines Todes geknebelt war.« Ich halte die Lupe übe r die Armbeuge und zeige Stanfield zwei kleine Blutflecken. »Frische Einstichstellen«, erkläre ich. »Aber interessant ist, dass er keine alten Einstiche hat, die auf längeren Drogenmissbrauch hinweisen. Ich werde ein Stück Leber auf Triaditis testen lassen - eine leichte Entzündung des strukturellen Versorgungssystems aus Gallengang, Arterie und Vene. Wir werden sehen, was die toxikologischen Untersuchungen sagen.«
»Wahrscheinlich hatte er Aids.« Das ist Detective Stanfields
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