Das Letzte Ritual
sie davon halten sollte. Sie holte ihr Handy heraus und wählte eine Nummer.
Laura Amaning steuerte auf den Flur im Árnagarður zu, wo Gloria gerade den Teppichboden saugte. Laura hatte den ganzen Morgen nicht unter vier Augen mit ihr sprechen können. Jetzt ergriff sie die Gelegenheit. »Gloria, ich muss dich was fragen«, sagte sie in ihrer Muttersprache.
Gloria schaute überrascht auf. »Was denn? Ich mache alles so, wie du es mir gezeigt hast.«
Laura winkte ab. »Es geht nicht ums Putzen. Ich möchte dich fragen, ob dir an dem Mordwochenende im Studentenzimmer etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Du hast doch da geputzt. Bevor die Leiche gefunden wurde.«
Glorias dunkle Augen weiteten sich. »Ich hab’s euch doch gesagt – und der Polizei auch. Da war nichts.«
Sie log. Laura schaute sie ernst an. »Gloria. Sag mir die Wahrheit. Du weißt, dass es eine Sünde ist zu lügen. Gott weiß, was du dort gesehen hast. Willst du ihn auch anlügen, wenn du am Ende vor ihm stehst?« Laura packte das Mädchen an der Schulter und zwang sie, ihr in die Augen schauen. »Es ist alles in Ordnung. Du konntest nichts von dem Mord wissen. An dem Wochenende hat niemand die Druckerkammer betreten. Was hast du gesehen?«
Eine Träne rann Gloria über die Wange. Laura ließ sich davon nicht beirren, zumal das Mädchen nicht zum ersten Mal bei der Arbeit weinte. »Gloria. Wisch dir das Gesicht ab. Sag es mir! Ich hab Blutspuren am Fenstergriff gefunden. Was war da drinnen?«
Aus einer Träne wurden zwei, dann drei und dann ein ganzer Wasserfall. Plötzlich stieß Gloria schluchzend hervor: »Ich wusste doch nicht, ich wusste doch nicht …«
»Ich weiß, Gloria. Wie hättest du es wissen können?« Sie strich dem Mädchen die Tränen von der Wange. »Was hast du da drinnen gefunden?«
»Blut«, entgegnete das Mädchen und schaute Laura angsterfüllt an. »Es war keine richtige Blutlache. Nur ein bisschen Blut. Jemand hatte versucht, es wegzuwischen. Ich hab es erst gemerkt, als ich es schon mit dem Lappen abgewischt hatte. Ich hab nicht weiter drüber nachgedacht – ich konnte doch nicht ahnen … du weißt schon.«
Laura atmete auf. Blutspuren – das war alles. Das würde Gloria nicht in Schwierigkeiten bringen. Laura hatte den Lappen mit dem Blut vom Fenster aufbewahrt und würde ihn Tryggvi und der Polizei übergeben. Die würden schon herausfinden, von wem das Blut stammte. Laura hatte keinen Zweifel daran, dass der Mord im Studentenzimmer begangen worden war. »Gloria, mach dir keine Sorgen. Das ist nebensächlich. Du musst nur eine neue Aussage machen – sag einfach die Wahrheit, dass du dir nicht über die Wichtigkeit dieser Information im Klaren warst.« Sie lächelte, merkte aber zu ihrer Verwunderung, dass das Mädchen immer noch weinte.
»Da ist noch was«, sagte sie unter Schluchzen.
»Noch was?«, fragte Laura verwundert. »Was denn?«
»Ich hab an dem Morgen noch was dort gefunden. In der Schublade mit den Messern. Ich zeig’s dir«, sagte Gloria weinend. »Ich hab’s aufbewahrt. Komm mit.«
Laura folgte Gloria zu einer Putzkammer im ersten Stock. Dort stieg Gloria in Tränen aufgelöst auf einen kleinen Hocker und reckte sich zum obersten Regal. Sie reichte Laura einen kleinen, in ein Handtuch gewickelten Gegenstand und hörte endlich auf zu weinen. »Ich hab ihn aufbewahrt, weil ich wusste, dass da was nicht stimmt. Und als die Leiche gefunden wurde, hab ich begriffen, was es damit auf sich hat, und furchtbare Angst bekommen. Meine Fingerabdrücke sind da drauf und die Polizei glaubt sicher, ich hätte … – Aber ich hab ihn nicht umgebracht!«
Laura schlug das Handtuch vorsichtig auseinander. Sie schrie auf und bekreuzigte sich. In diesem Moment brach Gloria erneut in Tränen aus.
Guðrún, oder Gurra, wie ihre Freunde sie nannten, nahm all ihre Kraft zusammen und verdrängte das Verlangen, an ihren Nägeln zu kauen. Sie hatte schon vor so langer Zeit damit aufgehört, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, ob es vor oder nach der Heirat mit Alli gewesen war. Gurra musterte ihre gepflegten Hände. Sie dachte kurz darüber nach, sich die Nägel zu lackieren, nur um den Lack wieder abkratzen zu können, sobald er hart geworden war. Stattdessen stand sie auf und ging in die Küche. Es war Samstag und sie würde etwas Leckeres kochen. Alli arbeitete jeden Tag außer sonntags, daher konnte er sich nur an den Samstagabenden ein bisschen entspannen. Gurra schaute auf die Uhr – es war
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