Das letzte Theorem
begann mit den ersten Völkern, die nachweislich Staaten bildeten - den Sumerern, Akkadianern, Babyloniern und Hethitern -, und schilderte, wie im sogenannten »Fruchtbaren Halbmond«, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, die Wiege der Zivilisation entstand. Von dort ausgehend, entwickelten sich Hochkulturen in Ägypten, China, Europa und schließlich überall auf der Welt. Doch egal, wohin die Menschen zogen, egal, welche Nachbarn sie hatten und egal, wie reich sie waren, nie hörten sie auf, ihre blutigen und verheerenden Kriege zu führen.
Insgesamt interviewte Natasha Subramanians Abbild fast zwanzig Leute. Jede einzelne Frage wurde beantwortet - wenn auch nicht immer sofort. Die meiste Zeit für seine Antworten nahm sich ein Atombombenkonstrukteur aus Amarillo in Texas, der sich glattweg weigerte, Details über die Nuklearwaffe in Stiller Donner preiszugeben. Er gab nicht einmal nach, als ihm Essen, Trinken und das Benutzen einer Toilette
verweigert wurden … bis er letzten Endes kapitulierte und meinte, er würde antworten, wenn der Präsident der USA ihm die Erlaubnis dazu erteilte. Das darauf folgende Gespräch mit dem Präsidenten dauerte weniger als zwanzig Minuten; dann hatte dieser die Situation erfasst und wie sie sich auf sein eigenes Leben und seinen Komfort auswirken würde. Er knurrte bloß: »Zum Teufel, erzählen Sie ihr alles, was sie wissen will.«
Zusammengenommen nahmen die Befragungen rund einundfünfzig Stunden in Anspruch. Dann verschwand die Gestalt einfach. Und als Ranjit und Myra sich Aufzeichnungen der ersten und der letzten Interviews anschauten, sahen sie zu ihrer Verblüffung, dass das Aussehen ihrer Tochter sich überhaupt nicht verändert hatte, die Frisur war immer gleich, jede Locke saß immer am selben Platz. Im Gesicht zeigten sich keine Spuren von Erschöpfung, und die Stimme klang nie müde. Ihre spärliche Bekleidung war picobello sauber, nirgendwo war ein Fleck von heruntergefallenem Essen zu sehen, wie es immer wieder mal vorkommen kann (was für ein Essen? Sie hatten kein einziges Mal gesehen, dass sie Nahrung zu sich genommen hätte), oder ein Schmutzstreifen, der entsteht, wenn man eine staubige Fläche streift.
»Sie ist nicht real«, stellte Ranjit fest.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte seine Frau. »Aber wo befindet sich die reale Natasha?«
Da Myra und Ranjit schließlich auch nur Menschen waren, mussten sie irgendwann einmal schlafen. Aber man ließ sie nicht in Ruhe. Deshalb gab Myra den Dienstboten den strengen Befehl, sie nicht vor zehn Uhr morgens zu stören, es sei denn, die Welt ginge unter.
Und als Myra dann ein Auge aufmachte, das besorgte Gesicht der Köchin sah, die sich über sie beugte, und feststellte, dass es erst sieben Uhr früh war, stieß sie ihren reglos daliegenden Mann kräftig mit dem Ellenbogen in die Rippen. Nur für
den Fall, dass der Weltuntergang wirklich kurz bevorstand, denn den sollte er nicht verpassen.
Und wer weiß, vielleicht ging die Welt ja tatsächlich unter. Denn die aufgeregte Köchin erzählte ihnen, dass die »Supernova« in der Oort’schen Wolke wieder aufgeflammt war, obwohl die ausgestoßene Energie nur den Bruchteil der Strahlung betrug, die bei der ersten Eruption freigesetzt wurde. Indem auf der Erde immer mehr Teleskope auf diesen Punkt des Universums gerichtet wurden, stellte man fest, dass dieser erneute Strahlungsausbruch nicht von einer einzigen Quelle ausging. Es gab über hundertfünfzig Herde, und (so berichtete der nervös und besorgt klingende Nachrichtensprecher) eine Doppler-Analyse hätte eine weitere Merkwürdigkeit ergeben. All diese Strahlungsquellen bewegten sich. Und zwar generell in die Richtung des inneren Sonnensystems, direkt auf die Erde zu.
Ranjits Reaktion war wieder einmal typisch für ihn. Eine lange Zeit starrte er blicklos ins Leere, dann sagte er »Huh« und rollte sich auf die Seite, vermutlich um wieder einzuschlafen.
Myra dachte daran, seinem Beispiel zu folgen, doch schon nach wenigen Minuten merkte sie, dass es nicht ging. Umständlich praktizierte sie ihre allmorgendlichen Rituale und schlurfte lustlos in die Küche, um sich von der Köchin einen Tee aufbrühen zu lassen. Nach Konversation war ihr aber nicht zumute, deshalb ging sie mit ihrer Tasse hinaus auf den Patio, um ungestört nachdenken zu können.
Nachdenken konnte Dr. Myra de Soyza Subramanian ziemlich gut. Nur an diesem Morgen schien es nicht zu klappen. Vielleicht lag es daran, dass die Köchin in
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