Das letzte Theorem
irgendein erhellendes Wort oder eine höfliche Einleitung, prasselten die Fragen auf Ranjit nieder.
Sie schienen gar kein Ende zu nehmen. Die Befragung zog sich über vier Stunden hin, und kaum ein Thema wurde ausgespart. »Warum zerstören so viele Ihrer Stämme ihre Waffen?« - »Hat Ihre Spezies jemals in Frieden gelebt?« - »Was bedeutet ›Beweis‹ im Zusammenhang mit Ihren früheren Forschungen über Fermats Theorem?«
Manchmal muteten die Fragen ziemlich abstrus an. »Warum kopulieren Ihre Männchen und Weibchen so oft, sogar dann, wenn das Weibchen nicht empfängnisbereit ist?« Und »Haben Sie niemals die optimale Bevölkerungsdichte für Ihren Planeten errechnet?« Und »Wieso befinden sich viel mehr Exemplare Ihrer Spezies auf dieser Welt, als sie verkraften kann?« Und »Auf Ihrem Planeten gibt es großflächige Areale, die kaum von Menschen bewohnt sind. Warum siedeln Sie nicht einen Teil der Leute, die Ihre überquellenden Städte bevölkern, einfach in diese nahezu leeren Gebiete um?«
Während der ganzen Zeit stand Myra wie gelähmt da. Sie konnte alles hören und sehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Als sie merkte, wie Ranjit sich trotz seines offensichtlichen
Schockzustands abmühte, selbst die absonderlichsten Fragen vernünftig zu beantworten, wäre sie ihm gern zu Hilfe gekommen, aber es war ihr einfach nicht möglich.
Und es waren wirklich knifflige Fragen dabei! Zum Beispiel wollte sie - oder es - wissen: »Manchmal benutzen Sie für eine Zusammenballung von Menschenmassen den Begriff ›Land‹, und manchmal das Wort ›Nation‹. Worin unterscheiden sich die beiden Konzepte? In der Größe?«
Ranjit schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es gibt Länder mit nur wenigen Hunderttausend Einwohnern und welche - so wie China - mit fast zwei Milliarden. Aber beides sind souveräne Staaten - oder Nationen«, verbesserte er sich.
Die Gestalt schwieg eine Weile. Dann ging es weiter: »Wie kam die Entscheidung zustande, die elektronischen Systeme der Nationen, Länder oder souveränen Staaten Nordkorea, Kolumbien, Venezuela und anderer zu eliminieren?«
Ranjit seufzte. »Ich glaube, der Rat von Pax per Fidem steckt dahinter. Für eine verlässlichere Antwort müssen Sie eines der Ratsmitglieder befragen - vielleicht Gamini Bandara oder seinen Vater.« Als die Gestalt nichts darauf erwiderte, fuhr er nervös fort: »Natürlich kann ich Vermutungen anstellen. Möchten Sie das?«
Die Augen, die nicht die von Natasha waren, betrachteten ihn eine geraume Zeit lang. Dann entgegnete die Gestalt: »Nein.« Es ertönte ein ohrenbetäubendes elektronisches Quietschen, die Luft verwirbelte sich, und die Erscheinung verschwand.
Sobald Myra sich wieder bewegen konnte, rannte sie zu ihrem Mann und nahm ihn in die Arme. Schweigend und eng umschlungen saßen sie da, bis ein heftiges Bollern an der Haustür alle erschreckte. Als das Mädchen aufmachte, stürmten mindestens ein Dutzend Polizisten ins Haus und suchten nach jemandem, den sie verhaften konnten. Ihr Hauptmann keuchte, völlig außer Atem: »Tut mir leid. Aber der wachhabende Konstabler sah durch ein Fenster, was hier los war, und alarmierte
uns, aber als wir ankamen, konnten wir uns dem Haus nicht nähern. Nicht mal die Außenwände konnten wir anfassen - Entschuldigung.« Er hob seinen Handcomputer ans Ohr, während Myra den Polizisten, die das Haus durchkämmten, versicherte, es sei niemand zu Schaden gekommen.
Der Polizeihauptmann befestigte seinen Handcomputer wieder an seinem Gürtel. »Dr. Subramanian? Erwähnten Sie Gamini Bandara, den Sohn unseres Präsidenten, in Ihrem Gespräch mit diesem …« Er brach ab und suchte nach dem passenden Wort, um den Satz zu beenden, aber ihm fiel keines ein. »Sie wissen schon, was ich meine«, half er sich selbst aus der Klemme.
Ranjit nickt. »Ja, in diesem Gespräch habe ich Gamini Bandara erwähnt.«
»Das dachte ich mir«, ächzte der Mann. »Und jetzt wird er genauso befragt wie Sie - von derselben Person!«
Die Nachricht von dem mysteriösen Auftauchen einer Gestalt, die aussah wie Natasha Subramanian, es aber nicht war, und die unzählige Fragen stellte, ging über sämtliche Nachrichtenkanäle in aller Welt. Jeder Mensch, der einen Fernseher besaß oder Zugang zu einem hatte, erfuhr davon. Doch niemand vermochte diesen ungeheuerlichen Zwischenfall zu erklären, weder die konkret Betroffenen, wie die Familie Subramanian, noch irgendein anderes Mitglied der menschlichen Rasse.
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