Das letzte Theorem
der Küche den Fernseher mit dem Nachrichtensender eingeschaltet hatte, und selbst hier draußen konnte Myra die gedämpften Stimmen hören. Etwas Interessantes hatte der Sender eigentlich nicht zu melden, denn alles Wichtige war bereits gesagt worden. Vielleicht konnte sie auch deshalb keinen klaren Gedanken fassen,
weil sie sich innerlich viel zu sehr mit der unerklärlichen Erscheinung beschäftigte, die aussah wie ihre Tochter, es aber nicht war. Vielleicht machte sie auch die Hitze der Morgensonne träge, und hinzu kam noch ihre Erschöpfung.
Myra nickte ein.
Wie lange sie auf dem Liegestuhl in der prallen Sonne schlief, konnte sie nicht sagen. Als irgendetwas sie weckte, sah sie jedoch sofort, dass die Sonne merklich höher am Himmel stand, und aus der Küche hörte sie das erregte Geschnatter der Köchin und des Hausmädchens. Die beiden veranstalteten einen geradezu lächerlichen Radau.
Dann vernahm sie die leise Stimme aus dem Fernseher, die die Ursache für die Aufregung der beiden Frauen war. Einer der Monitore im erdnahen Orbit hatte zufällig einen Funkspruch aufgefangen, der aus der Ansammlung von Raumschiffen kam, die ursprünglich das erste Solarsegler-Rennen der Welt bestreiten sollten, nun jedoch in einer sicheren Parkbahn um die Erde dümpelten. Myra erkannte die Stimme auf Anhieb.
»Hilfe«, rief die vertraute Stimme. »Jemand muss mich aus dieser Kapsel befreien, ehe mir die Luft ausgeht. Ich bin schon auf Reserve.« Dann kam eine Information, die weder Myra noch Ranjit gebraucht hätten: »Hier spricht Natasha de Soyza Subramanian, die ehemalige Pilotin des Solarseglers Diana . Und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich hier mache.«
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Die Bildergalerie
Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte Myra Subramanian geschworen, dass sie nur einen einzigen Wunsch hatte, nämlich die Gewissheit zu bekommen, dass ihre Tochter wider Erwarten noch lebte und es ihr gutging. Und jetzt hatte sie die Gewissheit. Sogar die Rettungscrews, die unverzüglich auf Natashas Notruf reagierte hatten, bestätigten ihr, dass ihre Tochter unversehrt war. Sie teilten der voller Spannung wartenden Welt mit, die vermisste junge Frau sei gefunden worden, und dem ersten Anschein nach befände sie sich in einem guten gesundheitlichen Zustand. Man hätte sie geborgen und in Sicherheit gebracht, und sie sei bereits in einer ihrer Raketen unterwegs zum LEO-Kontaktpunkt des Skyhook.
Doch das genügte Myra nicht. Sie wollte ihre Tochter in den Armen halten, nicht Tausende von Kilometern weit weg wissen, ohne die Möglichkeit, sie körperlich berühren zu können; es würde Wochen dauern, bis sie via Skyhook wieder auf der Erde gelandet war.
An diesem Abend blieb Myra vor dem Fernseher sitzen und sah sich beinahe nonstop die Nachrichten an, in der Hoffnung, es käme endlich einmal eine Meldung, die nicht beängstigend oder unverständlich war. Plötzlich hörte Ranjit, wie sie aufschrie, und in Sekundenbruchteilen war er bei ihr.
»Sieh nur!«, kreischte sie und fuchtelte mit ausgestrecktem Arm in Richtung Bildschirm. Um ein Haar hätte auch Ranjit einen Schrei ausgestoßen, denn im Fernsehen sah er Natasha - aber nicht die irreale Kopie ihrer Tochter, die geschlagene einundfünfzig Stunden lang verschiedene Mitglieder der menschlichen
Rasse verhört hatte, sondern ihr Kind, ihr eigen Fleisch und Blut, dessen war er sich sicher.
Myra redete unentwegt auf Ranjit ein, doch er hörte gar nicht zu, und in diesem Augenblick war es ihm auch egal, was sie sagte. Er hetzte in sein Arbeitszimmer, Myra an seiner Seite, denn plötzlich war das Bild auf dem Schirm uninteressant geworden. Sofort versuchte er, eine reguläre Telefonverbindung zu der Skyhook-Kapsel herzustellen, in der seine Tochter zur Erde zurückkehrte. Ein hoher Rang brachte auch Vorteile mit sich. Als Mitglied des Skyhook-Gremiums genoss er bestimmte Privilegien, und er scheute nicht davor zurück, sich in diesem speziellen Fall darauf zu berufen. Und deshalb dauerte es nicht einmal eine Minute, bis eine Direktverbindung zu seiner Tochter hergestellt war. Auf einer Pritsche in dem strahlengeschützten Raum liegend, blickte sie ihm entgegen. Aber Natasha brauchte viel mehr als eine Minute, um ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie wirklich und wahrhaftig die richtige Natasha war und nicht eine Kopie ihrer selbst. Irgendwie fand Myra es beruhigend, zu sehen, dass die Haare ihrer Tochter zerstrubbelt waren und das dünne Hemd, das sie trug, ein paar Flecken
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