Das letzte Theorem
dass sein Vater für das nächste Quartal im Studentenheim die Miete überwiesen hatte. Der andere kam aus London, also von Gamini, und Ranjit riss ihn sofort auf.
Wenn er gehofft hatte, ein Brief von Gamini könne seinen bis jetzt frustrierend verlaufenen Tag retten, so wurde er schon wieder enttäuscht. Eher war das Gegenteil der Fall. Das Schreiben war kurz, und Gamini erwähnte kein einziges Mal, dass er
ihn vermisste. Hauptsächlich erzählte sein Freund davon, dass er an irgendeinem Ort, der Barbican genannt wurde, eine von Shakespeares weniger amüsanten Komödien gesehen hätte. Aus irgendeinem Grund, schrieb Gamini, hätte der Regisseur fast sämtliche Schauspieler in einheitlich weiße Gewänder gesteckt, so dass in der Hälfte der Zeit weder er noch Madge gewusst hätten, wer gerade sprach.
Dies war nun das dritte oder auch vierte Mal, dass Gamini diese Madge ins Spiel brachte, vergegenwärtigte sich Ranjit, als er nach dem Schreiben der Universität griff. Er dachte darüber nach, was das womöglich bedeuten konnte, während er einen Brief aus demselben weichen, cremefarbenen Papier wie der Umschlag hervorzog, und dann war Gamini samt seiner Versäumnisse vergessen. Der Briefkopf trug den Namen des Dekans der Universität, und der Text lautete:
Bitte finden Sie sich am kommenden Dienstag um 14.00 Uhr im Büro des Dekans ein. Es hat den Anschein, als hätten Sie während des vergangenen Studienjahrs widerrechtlich das Passwort eines Fakultätsmitglieds benutzt. Ihnen wird dringend geraten, sämtliche Dokumente oder andere Unterlagen mitzubringen, die Ihrer Ansicht nach für die Aufklärung des Sachverhalts dienlich sein können.
Unterschrieben hatte der Dekan. Ihrem Namensschild nach zu urteilen, war die Frau, die im Vorzimmer des Büros an einem Schreibtisch saß, eine Tamilin; das gab zwar Anlass zu Hoffnung, doch sie war auch alt wie Ranjits Vater. Sie maß ihn mit einem frostigen Blick. »Sie werden erwartet«, begrüßte sie ihn. »Gehen Sie gleich durch in das private Büro des Dekans.«
Dies war das erste Mal, das Ranjit den Leiter der Universität aufsuchte. Aber er wusste, wie der Mann aussah - auf der Homepage der Universität befanden sich Fotos des Lehrkörpers -, und der ältere Herr, der hinter dem riesigen Mahagonischreibtisch saß und eine Zeitung las, war auf gar keinen Fall
der Dekan. Nun legte der Mann die Zeitung beiseite und stand auf; als er Ranjit ansah, lächelte er zwar nicht unbedingt, aber er blickte auch nicht drein wie ein gestrenger Richter, der im Begriff steht, einen Angeklagten zum Tode zu verurteilen. »Treten Sie ein, Mr. Subramanian«, rief er. »Nehmen Sie Platz. Ich bin Dr. Dezel Davoodbhoy, Vorsitzender der mathematischen Fakultät, und da Mathematik in diesem Fall eine wichtige Rolle zu spielen scheint, bat mich der Dekan, das Gespräch mit Ihnen zu führen.«
Das war keine Frage gewesen, und Ranjit fiel beim besten Willen keine angemessene Erwiderung ein. Er fuhr einfach fort, den Mathematiker mit einer Miene anzustarren, die, wie er hoffte, Besorgnis, aber keinesfalls ein schlechtes Gewissen ausdrückte.
Dr. Davoodbhoy schien ihm sein Schweigen nicht übel zu nehmen. »Zuerst muss ich Ihnen ein paar formelle Fragen stellen«, hob er an. »Haben Sie Dr. Dabares Passwort dazu benutzt, sich Geld zu verschaffen, das Ihnen nicht zustand?«
»Ganz sicher nicht, Sir!«
»Oder um Ihre Mathematiknoten zu ändern?«
Jetzt war Ranjit beleidigt. »Nein! Ich meine, nein, Sir, so etwas würde ich nie tun!«
Dr. Davoodbhoy nickte, als hätte er diese Antworten erwartet. »Ich denke, ich kann Ihnen sagen, dass es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass Sie sich dieser beiden Vergehen schuldig gemacht haben. Und jetzt möchte ich von Ihnen wissen, wie Sie an das Passwort gekommen sind?«
Soweit Ranjit sehen konnte, gab es keinen Grund, irgendetwas zu vertuschen. Während er hoffte, dass er sich nicht selbst schaden würde, legte er dem Mathematikprofessor seine Beweggründe dar. Er begann damit, wie er herausgefunden hatte, dass Dr. Dabare einen längeren Auslandsaufenthalt plante, und endete, indem er seine Rückkehr zu dem Bibliothekscomputer schilderte, auf dessen Bildschirm dann des Rätsels Lösung prangte.
Nachdem er zu sprechen aufhörte, sah Davoodbhoy ihn eine Weile schweigend an. Schließlich sagte er: »Wissen Sie was, Subramanian, vielleicht sollten Sie sich in Zukunft mehr mit Kryptographie beschäftigen. Das wäre lohnender, als Ihr Leben damit zu
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