Das letzte Theorem
Zahl, bis man zehn in einer Kolonne untereinander geschrieben hat. Zehn Zahlen, für jeden Finger eine. Das sieht dann so aus …«
Mit einem Bleistift kritzelte er auf ein Stück Papier:
»Und wenn man alle Zahlen addiert, bekommt man als Ergebnis …«
»Ihr habt also gelernt, wie ihr mit euren Fingern bis eintausendunddreiundzwanzig zählen könnt!«
Ranjit legte eine Pause ein und ließ den Blick über seine Zuhörerschaft schweifen. Doch die erhoffte Reaktion blieb aus. Mittlerweile weinten noch ein paar Kinder mehr, und die Mienen auf den Gesichtern der anderen reichten von schlichtem Unverständnis bis hin zu Trotz und Verblüffung.
Doch dann hörte er die erste zaghafte Frage.
»Soll das heißen …?«
»Moment mal, Ranjit, willst du damit sagen …?«
Und endlich war der Bann gebrochen. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Angenommen, wir zählen Fische mit unseren Fingern und beginnen an der rechten Hand. Der rechte kleine Finger bedeutet dann, dass wir einen Haufen Fische haben, der bloß aus einem einzigen Fisch besteht. Der Ringfinger sagt aus, dass in einem anderen Haufen zwei Fische sind, der Mittelfinger steht dann für vier Fische und so weiter. Und wenn man dann alle Haufen zusammenzählt, kommt man auf eintausenddreiundzwanzig Fische. Richtig?«
»Richtig«, bestätigte Ranjit zufrieden. Er empfand Genugtuung, obwohl die einzigen Kids, die überhaupt gefragt hatten, die Kinder der Kanakaratnams waren, und die Einzige, die das System tatsächlich begriffen hatte, war wieder einmal Tiffany.
George - oder Kirthis, wie auch immer - Kanakaratnam schien es nicht zu stören, dass Ranjits Bemühungen, die Kinder zu unterhalten, nicht unbedingt von Erfolg gekrönt waren. Als er sich zum Mittagessen zu Ranjit gesellte - man konnte zwischen zwei Suppen und drei Salaten wählen, und auf der Speisekarte standen mindestens ein halbes Dutzend Vorspeisen -, sagte er beifällig: »Du hast dir heute selbst einen großen Dienst erwiesen.« Auf eine nähere Erläuterung verzichtete er, aber Ranjit, der gleichfalls einen Blick auf den toten Kapitän erhascht hatte, konnte sich ziemlich gut vorstellen, was er meinte.
Als Kanakaratnam eine Stunde später Ranjit noch einmal aufsuchte, wurde er deutlicher. »Du musst meinen Freunden beweisen, dass du mit uns kooperierst«, ermahnte er ihn. »Sie haben Fragen gestellt. Es kann nicht schaden, wenn du dich nützlich machst, und ich hätte da eine Aufgabe für dich. Wir benötigen persönliche Informationen über jeden Passagier - damit wir wissen, wie viel Lösegeld wir für ihn verlangen können -, und die meisten von uns sprechen keine Sprache, die die Passagiere verstehen. Aber in dem Punkt kannst du uns doch sicher weiterhelfen?«
Der Tonfall war fragend, aber die Realität sah so aus, dass Ranjit gar nichts anderes übrigblieb, als das zu tun, was die Piraten von ihm verlangten. Ihm war völlig klar, dass seine Chancen, zu überleben, davon abhingen, inwieweit er sich unentbehrlich machen konnte, deshalb verbrachte er die beiden nächsten Tage damit, stundenlang ältere Leute - manche waren eingeschüchtert, die meisten aggressiv - nach ihren Bankkonten, der Höhe der Rentenbezüge, Immobilien und eventuellen vermögenden Angehörigen auszufragen.
Doch bereits nach zwei Tagen fanden diese Verhöre ein Ende, als die Katastrophe über sie hereinbrach.
Es war noch dunkel, als Ranjit durch eine Veränderung im Geräuschpegel des Schiffs geweckt wurde. Das einlullende Stampfen der Schiffsmotoren klang nicht mehr wie ein träges Kerplum, Kerplum, Kerplum , sondern hatte sich zu einem hektischen und scharfen Beggabegga! Beggabegga! gesteigert. Übertönt wurde der Krach noch von dem Gebrüll auf dem Gang vor seiner Kabine. Als er durch den Türspalt spähte, sah er Mitglieder der ursprünglichen Schiffsbesatzung, die im Laufschritt zu den Ausgängen trabten. Jeder Mann schleppte zwei bis drei Koffer, die offensichtlich aus den Kabinen der Passagiere stammten, und die - Ranjit zweifelte keine Sekunde daran - vollgestopft waren mit gestohlenen Wertsachen. Das meiste Geschrei verursachten die Piraten, die die Crewmitglieder mit dicken Tauenden vorwärtspeitschten. Die Piraten machten einen wütenden und irgendwie besorgten Eindruck. Die Besatzungsmitglieder sahen zu Tode erschrocken aus.
Wieder einmal hielt Ranjit es für eine gute Idee, sich nützlich zu machen. Er folgte den Kofferträgern bis zu einer Treppe, wo andere Crewmänner von oben
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