Das letzte Theorem
Spieleinsätze hätten bezahlen können, war das ohnehin egal. An den Bars wurden keine Getränke mehr ausgeschenkt, und im Barraum-Theater gab es keine der sonst allnächtlich stattfindenden Shows. Doch über die Fernsehgeräte, mit denen sämtliche Kabinen ausgestattet waren, konnte man sich Filme ansehen, und das Wetter war herrlich.
Laut Kanakaratnam war es bereits zu schön. »Eine dichte Wolkendecke wäre mir lieber«, sagte er. »Bei dieser klaren Sicht kann man gut beobachtet werden. Man weiß nie, wer von oben auf einen herunterguckt. Satelliten«, fügte er erklärend hinzu, als Ranjit ihn verdutzt anstarrte. »Auf einen rostigen alten Kahn wie diesen achtet man normalerweise kaum, aber ganz sicher kann man sich nie fühlen. Ach so«, rief er, als ihm
plötzlich etwas einfiel. »Tiffany sucht dich. Sie will wissen, ob du ihr vielleicht mit den Kindern helfen kannst. Sie sind alle auf dem Sonnendeck.«
»Ja, sicher, warum nicht?«, entgegnete Ranjit hilfsbereit. Er freute sich sogar darauf, seine vier Spielkameraden wiederzusehen. Gewiss, er fühlte sich verdammt elend, aber er tat sein Bestes, sich nichts anmerken zu lassen. Als er aus dem Treppenaufgang, der zum Sonnendeck führte, herauskam und in das gleißende Licht eines Tropentages trat, spähte er unwillkürlich zum Himmel empor.
Selbstverständlich konnte er keine Beobachtungssatelliten am blankgefegten Firmament entdecken, trotzdem fragte er sich, ob in diesem Moment vielleicht nicht doch die Augen irgendeines ungesehenen Beobachters auf ihnen ruhten …
Er hätte nicht schlecht gestaunt, wenn er gewusst hätte, welchen nichtmenschlichen Wesen die Augen gehörten, die tatsächlich dieses Schiff observierten.
An Bord des gekaperten Schiffs befanden sich ungefähr zwanzig Kinder, die schätzungsweise zwischen sechs und vierzehn Jahre alt waren. Die meisten von ihnen sprachen ein halbwegs verständliches Englisch, und Tiffany wollte, dass Ranjit ihnen Geschichten erzählte, damit sie allmählich das Bild des ermordeten Kapitäns vergaßen, den die Piraten den ganzen Tag lang auf Deck hatten liegen lassen, wo jeder ihn sehen musste.
Den unter Schock stehenden Kindern zu helfen, war nicht leicht. Zwei Zehnjährige weinten unaufhörlich, und die meisten anderen konnten ihre Blicke nicht von den mit Gewehren bewaffneten Piraten abwenden, die das Deck patrouillierten. Ranjits Geschichten kamen bei den verängstigten Kids nicht besonders gut an, deshalb beschloss er, etwas anderes auszuprobieren und sie mit Zahlenspielen zu unterhalten. Vielleicht machte er es sich unnötig schwer, denn anstatt ihnen die simple und ihren Eindruck nie verfehlende Russische
Bauernmultiplikation beizubringen, wollte er den Kindern zeigen, wie man nach dem Binärsystem mit den Fingern rechnet.
Damit hatte er auch keinen Erfolg. Keines der Kinder hatte jemals etwas von Binärziffern gehört. Und als Ranjit ihnen erklärte, wenn man im Binärsystem eine Eins darstellen wolle, könne man ganz einfach die ganz normale Ziffer Eins hinschreiben, eine Zwei würde jedoch als Eins-Null ausgedrückt, und anstatt der bekannten drei müsse man Eins-Eins schreiben, war die Verwirrung komplett.
Unverdrossen machte er weiter. »Jetzt kommen wir zu dem Teil, wie man mit den Fingern rechnet.« Er hielt beide Hände in die Höhe. »Stellt euch vor, jeder eurer Finger stellt eine Ziffer dar - ja, richtig, Tiffany, ich weiß, was du jetzt fragen willst. Du hast Recht, den Daumen sehen wir auch als Finger an.« (Tiffany hatte zwar kein Wort von sich gegeben, aber sie nickte vergnügt.) »Jede Ziffer muss aber eine Eins oder eine Null sein, denn nur damit rechnet man in der binären Arithmetik. Wenn die Finger eingezogen sind« - er ballte die Hände zu Fäusten -, »ist jeder Finger eine Null. Und jetzt seht mal her.« Er legte beide Fäuste vor sich auf die Tischplatte. »Im Binärsystem bedeuten diese zehn eingezogenen Finger die Zahl Null Null Null Null Null Null Null Null Null Null. Man kann auch sagen, dass die so dargestellte Zahl Null ist, denn egal wie viele Nullen man aufschreibt, sie bleibt immer Null. Und jetzt schaut euch das an.«
Er reckte alle zehn Finger in die Höhe. »Jetzt haben wir lauter Einsen, und die Binärzahl, die ich anzeige, heißt Eins Eins Eins Eins Eins Eins Eins Eins Eins Eins. Wenn man sie nach dem üblichen Dezimalsystem aufschreiben möchte, beginnt man mit einer Eins, darunter kommt eine Zwei, dann folgt die Vier - man verdoppelt die jeweils letzte
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