Das letzte Theorem
Kanakaratnam! Und jetzt rannte Tiffany, ihre große Schwester, zu ihr, allem Anschein nach, um sie zu schelten; wenige Meter entfernt sah er den einzigen Buben in der Familie an der Hand eines untersetzten, dunkelhäutigen Mannes.
Ob das Kirthis Kanakaratnam war? Jemand anders konnte es eigentlich kaum sein. Schon rief Tiffany dem Mann etwas zu, ihre kleine Schwester zu ihm zerrend.
Der Mann nickte bedächtig. Dann wandte er sein Gesicht Ranjit zu, der sich drunten aus dem Fenster seines Van lehnte. Breit grinsend, vollführte er ein paar Gesten, die eindeutig Ranjit galten.
Was er ihm signalisieren wollte, war nicht schwer zu verstehen; er lud ihn ein, an Bord des Schiffs zu kommen, zeigte auf einen freien Parkplatz in der Nähe, dann auf sich selbst und zum Schluss auf die Gangway, die das Schiff mit dem Kai verband. Ranjit zögerte nicht. Er bog auf den angewiesenen Parkplatz ab, stieg aus dem Wagen und trabte die Gangway hinauf.
Dabei erkannte er, dass dieses Schiff ganz sicher nicht in die Klasse dieser fünfzigtausend Tonnen Ozeanriesen gehörte, die durch die Karibik und die griechische Inselwelt kreuzten. Es war viel kleiner, viel schmutziger, und an vielen Stellen war die Farbe so stark abgeblättert, dass es einen neuen Anstrich dringend nötig hatte. Am Ende der Gangway bewachte ein kräftiger, schwarzbärtiger Mann in einer weißen Schiffsuniform ein Scannergerät und ein kleines Tor. Aber neben ihm stand der mutmaßliche George Kanakaratnam, der dem Mann etwas ins Ohr raunte und danach Ranjit überschwänglich willkommen hieß. »Kommen Sie an Bord, kommen Sie an Bord! Ich freue mich ja so, Sie zu sehen, Mr. Subramanian. Die Kinder haben unentwegt von Ihnen gesprochen! Und nun - hier entlang, bitte - gehen wir nach unten, plaudern ein bisschen mit Dot, und Sie können sich die hübsche Kabine ansehen, die die Kinder ganz für sich allein haben! Für meinen Job hier werde ich gut bezahlt, und es sieht ganz danach aus, als würde auch Dot eine Arbeit auf dem Schiff kriegen. So viel Glück hatten wir in unserem ganzen Leben noch nicht!«
»Na ja«, erwiderte Ranjit, »ich denke, Sie hatten wirklich großes Glück …«
Kanakaratnam ließ sich nicht unterbrechen, vor allen Dingen nicht durch zweideutige Bemerkungen, die eventuell auf seinen Ausbruch aus dem Gefängnis anspielten. »Das kann man wohl sagen«, sprudelte es aus ihm heraus. »Und die Bezahlung ist gut! Und jetzt gehen wir nur noch diese Treppe hinunter …«
Sie kletterten die Stufen hinab, marschierten durch einen weiteren Gang, und gelangten an die nächste Treppe, die noch tiefer nach unten führte. Die ganze Zeit über plapperte Kirthis (oder George) Kanakaratnam ohne Punkt und Komma, sich ständig wiederholend, drauflos, wie gut es seine Familie getroffen hätte und wie sehr seine Kinder Ranjit Subramanian liebten. Es ging durch sieben oder acht Türen, die alle so beschaffen waren, dass sie sich in einem Notfall automatisch schlossen und nicht wieder öffnen ließen; auf den meisten stand ZUTRITT VERBOTEN! Vor einer Tür ganz anderer Art blieb Kanakaratnam dann stehen und klopfte an. Ein hoch aufgeschossener, bärtiger Mann öffnete. »Er ist Somalier«, klärte Kanakaratnam Ranjit auf. »Im Großen und Ganzen sehen sie alle so aus.«
Er nickte dem Bärtigen zu, und der Mann erwiderte das Nicken. Dann wandte sich Kanakaratnam wieder an Ranjit und sagte in völlig verändertem Tonfall: »Und jetzt gehst du in die Kabine und setzt dich hin, mein Junge. Du musst ein, zwei Tage hierbleiben. Mach keinen Krach und versuch nicht zu fliehen, denn dann bringt er dich um.«
Er gab dem Somalier einen Wink. Anscheinend hatte der Mann die Situation begriffen und wusste, was Kanakaratnam von ihm verlangte, denn mit der Hand klopfte er auf ein Messer mit breiter Klinge, das er im Gürtel trug.
»Hast du kapiert?«, vergewisserte sich Kanakaratnam. »Kein Lärm und keine Fluchtversuche! Du bleibst hier drin, bis jemand kommt und dir sagt, dass du den Raum verlassen darfst. Mach keinen Ärger, und du wirst eine interessante Reise erleben - nachdem wir das Schiff übernommen haben.«
11
Piratenleben
Es dauerte dann doch ein bisschen länger, als Kanakaratnam angekündigt hatte, ehe Ranjit seine Freiheit wiederbekam. Wenigstens war das Essen, mit dem man ihn verköstigte, sehr gut, kein Wunder, denn es stammte ja aus der Küche eines Kreuzfahrtschiffs. An einer Wand befand sich eine harte, unbequeme Koje; anfangs wollte Ranjit sich krampfhaft
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